Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

SPORT


94 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


»Kicker«, zockte Fußballmanagerspiele auf
dem PC, kannte jeden Verein bis zur Regio-
nalliga.
Statt Fußballmanager wurde Herhold zu-
nächst Unternehmensberater in München,
später in Frankfurt am Main. Er flog um die
Welt, lernte, was Firmen erfolgreich macht.
Den Traum, einen Sportklub zu führen, gab
er nie auf.
Als die Niners vor knapp sechs Jahren an-
riefen und fragten, ob er für weniger Geld noch
mehr arbeiten wolle, zögerte er nicht. »In Mün-
chen brauchte mich keine Sau«, sagt Herhold,
»in meiner Heimat konnte ich dazu beitragen,
etwas Nachhaltiges zu schaffen.« Manchmal
schuftet er bis nachts, verhandelt mit Spieler-
agenten oder überlegt, wie er Kosten einsparen
kann. »Der Job ist mein Leben.«
Konsequent übertrug Herhold sein Mana-
gerwissen aus der Wirtschaft auf den Klub.
Er klapperte Sponsor um Sponsor ab, mach-
te aus anfänglich 50 Geldgebern mehr als
150 und überzeugte sie, jede Saison mehr zu
investieren. So wuchs der Niners-Etat auf
3,8 Millionen Euro, kein Spitzenwert, aber er
sehe »growth potential in der revenue«,
Wachstumspotenzial beim Umsatz, sagt Her-
hold. Den Beraterjargon hat er nicht abgelegt.
Mit Basketball lässt sich in Chemnitz in-
zwischen ordentlich Geld verdienen. Rund
4000 Fans strömen zu den Heimspielen in
die Arena, statt wie früher Schnittchen für die
Sponsoren gibt es heute Foodtrucks, eine
Cocktailbar, großzügige VIP-Lounges. Dass
sich die Spieler auf dem Messeareal in Kon-
ferenzräumen umziehen müssen und der Weg
bis aufs Spielfeld eine gefühlte Ewigkeit dau-
ert, nervt nur die Gegner.


Die Basketballbundesliga, die nach den
Einschränkungen durch die Pandemie jeden
Zuschauer gebrauchen kann, ist dankbar für
die lauten, reisefreudigen Niners-Fans, die ihr
Team selbst nach Niederlagen minutenlang
feiern. Nicht wenige planen ihren Urlaub nach
den Auswärtsspielen des Teams.
BBL-Geschäftsführer Stefan Holz spricht
von einem Klub, der die Liga »bereichert«
und einen »weißen Fleck auf der Landkarte«
füllt. Neben Weißenfels ist Chemnitz das ein-
zige BBL-Team aus den neuen Bundeslän-
dern. Beim Bezahlsender MagentaSport, der
die Spiele überträgt, erzielen die Niners hohe
Einschaltquoten; auf Social Media erreichen
sie mehrere Millionen Nutzer.
In der Liga populär gemacht hat die Chem-
nitzer ihre spektakuläre Spielweise; Schnell-
angriffe schließen die sprunggewaltigen Pro-
fis aus Übersee gern mit wuchtigen Dunkings
ab. Die Mannschaft vereint offensive Klasse
mit harter Verteidigung, Willensstärke und
einer frechen, unbekümmerten Art.
Zusammengestellt hat sie Cheftrainer
Rodrigo Pastore, 49, ein glatzköpfiger Argen-
tinier, der seit 2015 in Chemnitz wirkt. Er sei
es schnell leid gewesen, vom Management
ständig dieselben Ausreden zu hören, warum
Chemnitz nicht gut genug für die BBL sei,

erzählt Pastore. »Im Grunde war es die Angst
vorm Scheitern – und der Irrglaube, Dinge
nicht ändern zu können.«
Pastore ließ sich auch nach zwei knapp
verpassten Aufstiegen nicht entmutigen. Er
holte mit wenig Geld viel Qualität ins Team
und entwickelte Nachwuchstalente wie den
24 Jahre alten Chemnitzer Jonas Richter, der
unter dem Trainer zu einem Leistungsträger
reifte und der ihn einen »Visionär« nennt.
Mancher Konkurrent sagt, Pastore habe dem
Spiel eine eigene Ästhetik gegeben.
In Chemnitz bezeichnen sie ihn als Glücks-
griff; als Unermüdlichen, der Spielszenen
auf Video bis ins Detail studiert. Der noch
beim Spaziergang mit seinem Labrador über
Basketball grübelt. Den man ermahnen muss,
ein paar Tage freizunehmen. Der den glei-
chen Einsatz aber auch von seinen Profis
erwartet. Wer in der Sommerpause nicht an
seinen Schwächen arbeite, könne gehen, sagt
Pastore.
Der Trainer hasst es, wenn Spieler nach
einem Korberfolg Handküsse in die Menge
werfen, weil das den Fokus auf das Wesent-
liche nehme. Er lebt den Teamgedanken vor:
Erfolgreich zu sein, gehe nur im Kollektiv,
findet Pastore. Eine Philosophie, die mittler-
weile den gesamten Klub durchzieht – und
mit der sie in Zukunft auf internationalem
Parkett mitmischen wollen.
Pastore stört sich nur daran, dass Chemnitz
immer noch der Ruf der Fremdenfeindlichkeit
anhaftet. Er sagt, er spüre die Zweifel der Leu-
te, wenn er mit ihnen über die Stadt spreche.
»Zu Unrecht«, findet er. Denn die meisten,
die sich überzeugen ließen, für die Niners zu
spielen, wollten nicht mehr weg. Auch des-
halb habe der Erfolg mit der Mannschaft für
ihn einen höheren Stellenwert. »Hamburg,
München, Berlin – diese Städte klingen viel
attraktiver. Aber nur auf dem Papier. Und nur,
bis du einmal in Chemnitz warst.«
Aufstiegsheld Malte Ziegenhagen wird die
weitere Entwicklung der Niners nur als Zu-
schauer erleben. Seine Rolle im Team war
zuletzt geschrumpft, Coach Pastore setzte
ihn seltener ein, was Ziegenhagen zunehmend
frustrierte. Am vergangenen Wochenende
gab er bekannt, dass er die Mannschaft nach
Saisonende verlassen werde. Ob er weiter
Basketball spielen will, ließ er offen.
Er hätte nie gedacht, dass Ostdeutschland
jemals eine Station in s einer Karriere werden
würde, schrieb Ziegenhagen in einer emotio-
nalen Mitteilung auf Instagram. Er, der Ber-
liner, habe Chemnitz »lieben gelernt«, auch
weil »die Menschen und ihre Machermenta-
lität« gut zu ihm passten.
Sein Leben nach dem Basketball hat
Ziegenhagen längst geplant. Seit ein paar Jah-
ren arbeitet er nebenher für das Chemnitzer
Software-Start-up Staffbase, das auf Mitarbei-
terkommunikation spezialisiert ist. Das Unter-
nehmen wird mit einer Milliarde Euro bewer-
tet. »In Chemnitz geht was«, sagt Ziegen-
hagen. »Und die Mieten sind auch noch billig.«
Matthias Fiedler n

Basketballer Frantz Massenat nach Berlin-Spiel im März: Fußballern den Rang abgelaufen


»Die Menschen und
ihre Machermentalität
passen zu mir.«
Malte Ziegenhagen, Mannschaftskapitän

Alexander Trienitz / IMAGO
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