Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 95

Peiffer, 74, ist pensionier-
ter Professor der Univer-
sität Hannover. Sein For-
schungsschwerpunkt ist
Sport im Nationalsozialis-
mus. Mit dem Historiker
Henry Wahlig hat er das
Buch »Einig. Furchtlos.
Treu.« herausgegeben, einen Sammelband
über den »Kicker« unter dem Hitlerregime.


SPIEGEL: Herr Peiffer, Sie haben in Ihrer
Forschungsarbeit herausgefunden, dass der
»Kicker« seit 1933 eine sehr nazifreundliche
Zeitschrift war. Woran machen Sie das fest?
Peiffer: Nach der Flucht des jüdischen Heraus-
gebers Walther Bensemann 1933 in die
Schweiz übernahm sein ehemaliger Mitarbei-
ter Hanns-Jakob Müllenbach das Zepter. Von
da an schwenkte der »Kicker« sehr schnell
auf die Linie der Nationalsozialisten ein. Er
machte Werbung für die NS-Politik und ver-
öffentlichte im November 1933 einen Wahl-
aufruf für die NSDAP. Der »Kicker« sprach
von einer »Fußball-Volksgemeinschaft« und
machte sich die von den Nationalsozialisten
rassisch definierte Volksgemeinschaft zu
eigen, von den jüdischen Vereinen und den
Arbeitervereinen war keine Rede mehr.
SPIEGEL: Steigerte sich mit Beginn des Krieges
die Propaganda?
Peiffer: Bis zum Überfall auf Polen gab es
kaum ein Heft, in dem der englische Fußball
nicht als Vorbild auch für den deutschen
Fußball gepriesen wurde. Danach nahm die
Stimmungsmache zu. England wurde zum
Kriegsgegner erklärt, und es gab fortan keine
Berichte mehr über den englischen Fußball.
Für den »Kicker« war England der Kriegs-
hetzer, nicht Deutschland. Alles Deutsche
wurde glorifiziert, natürlich auch die Soldaten.
SPIEGEL: Hat Sie diese Radikalität des Stim-
mungswechsels überrascht?
Peiffer: Ich muss ehrlich sagen: Erwartet hat-
te ich das nicht. Ich habe viel geforscht über
den Sport im Nationalsozialismus und zahl-
reiche zeitgenössische Zeitungen und Partei-
blätter analysiert. Der »Kicker« hat sich sehr
schnell in Richtung eines systemkonformen
Blattes radikalisiert.
SPIEGEL: Ist dem »Kicker« bewusst gewesen,
welche Funktion er für das Hitlerregime er-
füllt?
Peiffer: Jedem musste das klar gewesen sein.
Wenn man andere Blätter wie die »Deutsche


Turnzeitung« kennt, ist das, was der »Kicker«
geschrieben hat, nicht außergewöhnlich. Was
mich verwundert hat, ist der unglaublich
schnelle Wandel von einem Fußballfachblatt
zu einem linientreuen Medium. In den ersten
Monaten des Jahres 1933 gab es ja noch Hand-
lungsspielräume, auch für den »Kicker«. Of-
fensichtlich sind die nicht genutzt worden.
SPIEGEL: Es gab 1940 eine Auseinanderset-
zung: Der bayerische Sportbereichsführer
Karl Oberhuber forderte den deutschen An-
griffsfußball, eine Art »Blitzkrieg« auf dem
Rasen. Er kritisierte damit das vermeintlich
zu defensive System des Reichstrainers Sepp
Herberger. Wo stand der »Kicker«?
Peiffer: Auf der einen Seite ging der »Kicker«
mit sportpolitischen und auch allgemein poli-
tischen Beiträgen voran, auf der anderen Sei-
te berichtete er nach wie vor relativ neutral
über die Fans und über die Fußballspiele. Na-
türlich fand die taktische Kontroverse ihren
Widerhall im »Kicker«.
SPIEGEL: Der »Kicker« wurde später sogar an
die Front geliefert. Warum?
Peiffer: Im Heft stand immer wieder, wie sehr
die Soldaten sich gefreut hätten über die Zu-
stellung des »Kicker«. Und der »Kicker« hat
eine Verbindungsstelle eingerichtet, bei der
Berichte, die von der Front kamen, gesammelt
und für die Veröffentlichung sortiert wurden.

Im weiteren Kriegsverlauf wurde dann über
Auszeichnungen deutscher Soldaten berichtet.
Und über die Gefallenen, deren Namen und
Vereine wurden veröffentlicht.
SPIEGEL: Angesichts der Tatsache, dass der
»Kicker« das NS-Regime gestützt hat, ist es
verwunderlich, dass er nach dem Krieg rela-
tiv schnell wieder loslegen konnte. Die Ent-
nazifizierung ging sehr fix.
Peiffer: Der neue Herausgeber Friedebert
Becker hatte seine Ausbildung bei Ullstein
genossen und als »Ullsteiner« sahen die Alli-
ierten in ihm quasi einen Antinazi. Er hatte
keine Probleme, die Lizenz zu bekommen.
Er hatte mehr oder weniger einen Freibrief.
Es ist nicht neu, dass Journalisten die Zeit des
Nationalsozialismus relativ unbeschadet
überstanden haben und nach 1945 wieder
tätig geworden sind. Bei der Entnazifizierung
hat Becker eine ähnliche Rolle gespielt wie
Carl Diem, der Organisator der Olympischen
Spiele 1936 und Mitgründer der Sporthoch-
schule in Köln. Diem schrieb für Sportfunk-
tionäre sogenannte Persilscheine, die sie vom
Vorwurf einer nationalsozialistischen Gesin-
nung entlasteten. Wir haben rund zehn Re-
dakteure im »Kicker« gefunden, die der
NSDAP angehört haben, teilweise sogar SS-
Mitglied waren.
SPIEGEL: Der Sport wollte nach dem Krieg
nicht politisch anecken und hat sich den An-
schein des Unpolitischen gegeben, spielte der
»Kicker« dabei mit?
Peiffer: Hitlers Sportfunktionäre waren nach
1945 wieder in führenden Positionen, und
auch Medien wie der »Kicker« hatten wenig
Interesse an einer Aufarbeitung. Das Hinter-
fragen der Rolle des Sports in der NS-Zeit hat
erst in den Achtziger-, Neunzigerjahren be-
gonnen. Im Fußball hängt es ganz stark zu-
sammen mit einer fulminanten Rede, die der
Rhetorikprofessor Walter Jens 1975 bei der
75-Jahr-Feier des DFB gehalten hat, als er
dem Verband Geschichtsblindheit vorwarf.
Und natürlich mit der Vergabe der Fußball-
weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland im
Jahr 2000.
SPIEGEL: Erst die WM 2006 war der Anlass,
sich der eigenen Geschichte zu stellen?
Peiffer: Ja natürlich, ohne den öffentlichen
Druck wäre vielleicht nie etwas geschehen.
Erst zur Jahrtausendwende hat der DFB eine
große Studie in Auftrag gegeben, um seine
Nazivergangenheit aufzuarbeiten.
SPIEGEL: Muss der Sport aus der NS-Vergan-
genheit lernen, sich mehr einzumischen,
wenn er politisch missbraucht wird, etwa von
Ländern wie China, Russland oder Katar?
Peiffer: Von unserem deutschen IOC-Präsi-
denten Thomas Bach wird ja immer noch ver-
breitet, dass Sport und Politik zwei unter-
schiedliche Paar Schuhe seien. Das ist abso-
luter Blödsinn. In dem Moment, wo der Sport
unter die Knute politischer Interessen gerät,
muss er sich kritisch damit auseinandersetzen.
Und es gehört zum Auftrag der Fachpresse,
sich diesen Fragen zu widmen.
Interview: Udo Ludwig, Andreas Meyhoff n

»Sehr schnell radikalisiert«


MEDIEN Der Historiker Lorenz Peiffer über die fragwürdige Rolle
des »Kicker« in der NS-Zeit und dessen schnelle Wende nach dem Krieg

»Kicker«-Ausgabe vom 29. Dezember 1936

Verlag Die Werkstatt GmbH

Der Kicker
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