Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 99

»Man kann sich an Krach


nicht gewöhnen«


GESUNDHEIT André Fiebig ist seit Januar 2019 Gast-


professor am Institut für Strömungsmechanik


und Technische Akustik an der TU Berlin. Er beschäftigt


sich dort mit der Frage, welche Auswirkungen Lärm


auf den Menschen hat.


SPIEGEL: Herr
Fiebig, ab wann ist
Lärm schädlich?
Fiebig: Im Arbeits-
schutz gilt die Re-
gel, dass ab 85 De-
zibel ein Schutz
getragen werden muss, damit
das Gehör keinen Schaden
nimmt; das entspricht in etwa
dem Krach direkt an einer viel
befahrenen Autobahn. Für an-
dere Erkrankungen reichen be-
reits viel geringere Pegel. Herz
und Kreislauf können schon bei
50 Dezibel Schaden nehmen.
SPIEGEL: Können wir störende
Geräusche ausblenden?
Fiebig: Nein. Unser Gehör ist
immer aktiv und empfangsbe-
reit, selbst im Schlaf. Man kann
sich an Krach auch nicht ge-
wöhnen. Die entsprechenden
körperlichen Reaktionen wer-
den immer wieder ausgelöst,
selbst wenn wir das bewusst gar
nicht so stark wahrnehmen.
SPIEGEL: Hat sich der Geräusch-
pegel im Alltag über die letzten
Jahre erhöht – oder ist das nur
eine subjektive Wahrnehmung?


Fiebig: Es ist nicht unbedingt
lauter geworden in den vergan-
genen Jahrzehnten. Aber es ist
trotz vielfältiger Lärmschutz-
bemühungen auch nicht leiser
geworden, jedenfalls nicht we-
sentlich. Auf der Straße haben
wir zwar immer strengere Vor-
gaben für Lärmschutz, das heißt
beispielsweise strengere Vor-
gaben für Kraftfahrzeuge, aber

trotzdem nur einen minimalen
Effekt der Lärmreduktion.
SPIEGEL: Woran liegt das?
Fiebig: Daran, dass wir immer
mehr Kraftfahrzeuge haben.
Und damit wird jeder Effekt der
leiseren Fahrzeuge wieder
obsolet, weil wir einfach eine
Zunahme haben – an Mobilität,
an Bewegung. Das trifft auf
den Flugverkehr ebenso zu, und
deswegen hilft es im Grunde
auch wenig, dass die Flugzeuge
tendenziell leiser werden. Die
Menschen sind inzwischen
zudem deutlich kritischer beim
Thema Lärm, viel weniger
tolerant als früher, und das hat
auch mit der Pandemie zu tun.
SPIEGEL: Warum?
Fiebig: Die Menschen sind
sensibler geworden. Wir beob-
achten, dass verstärkt auch
Lärm aus der Nachbarschaft

be anstandet wird. Wer perma-
nent zu Hause arbeitet, ist ge-
genüber Geräuschbelastungen
von außen weniger tolerant.
SPIEGEL: Viele Menschen arbei-
ten auch vermehrt in Großraum-
büros. Ist das denn besser fürs
Ohr und für die Gesundheit?
Fiebig: In den letzten Jahrzehn-
ten haben wir festgestellt, dass
Großraumbüros nicht so günstig
sind. Für ein konzentriertes
Arbeiten ist es sinnvoll, eine
ruhige Arbeitsumgebung zu
haben, und die gibt es in Groß-
raumbüros nicht. Einzelbüros
sind gesünder.
SPIEGEL: Wie kann man sich vor
Lärm und seinen Auswirkungen
schützen?
Fiebig: Man muss versuchen,
gegenseitige Rücksichtnahme
zu lernen. Das ist eine der wirk-
samsten Lärmschutzmaßnah-
men überhaupt. Sich immer
vergegenwärtigen, dass man
selbst auch Lärm verursacht
und mit dem eigenen Verhalten
möglicherweise dazu beiträgt,
dass andere sich belästigt füh-
len. Außerdem sollte man sich
regelmäßig Ruhepausen gönnen.
Das klingt jetzt banal und tri-
vial, ist aber eine sehr wirksame
Maßnahme, um sich auch zu
schützen. Wir wissen: Wenn
Menschen in ihrer näheren Um-
gebung Zugang zu leisen Orten,
Stadtparks und Grünflächen
haben, fühlen sie sich in der
eigenen Wohnung auch weniger
durch Verkehrslärm oder den
Krach belästigt, den die Nach-
barn machen. IPP

Tödliche Hitzewellen


KLIMA Indische Gesundheitsexperten
blicken mit großer Sorge auf die Extrem-
hitze, unter der die etwa 1,4 Milliarden Ein-
wohner ihres Landes derzeit leiden. Weil
die hohen Temperaturen von über 45 Grad
Celsius schon so früh im Jahr auftreten, hät-
ten viele Regionen nicht die nötigen Maß-
nahmen ergreifen können, um Alte und an-
dere vulnerable Bevölkerungsgruppen zu
schützen und gegebenenfalls versorgen zu
können. Zudem hätten die Menschen dies-
mal kaum Zeit gehabt, sich körperlich an
die extremen Temperaturen anzupassen;
dieser Missstand werde mit einer höheren
Sterblichkeitsrate einhergehen, warnt
Dileep Mavalankar, Direktor des Indian
In stitute of Public Health Gandhinagar.
Tatsächlich weisen Studien darauf hin,
dass frühe Hitzewellen gefährlicher sein
können als solche, die später im Jahr ver-


zeichnet werden. Weil wegen des Klimawan-
dels für die kommenden Jahre ähnliche Epi-
soden im März und April erwartet werden,
entwickelt die indische Regierung sogenann-
te Hitzeaktionspläne, die unter anderem den
Ausbau öffentlicher Kühlbereiche und den
besseren Zugang zu sauberem Trinkwasser
vorsehen. Besonders wichtig sei es auch,
die Arbeitszeiten der Menschen am unteren
Ende der Gesellschaft anzupassen, sagt der
Medizinexperte Abhiyant Tiwari vom
Gujarat Institute of Disaster Management.
Ziel ist zudem, eine unterbrechungsfreie
Stromversorgung zu gewährleisten. Bei den
Hitzewellen der vergangenen Jahre kam
es immer wieder zu Stromausfällen – auch
weil Millionen Klimaanlagen im Dauer-
einsatz waren. In Großstädten ist die Hitze
tendenziell besonders schwer zu ertragen.
In Delhi und anderen Metropolen bringen
nicht einmal die Nächte Linderung, da die
vielen Beton- und Pflasterflächen auch nach

Sonnenuntergang noch stark heizen. »Vor
dem Anstieg der globalen Temperaturen
hätten wir die Hitze, die Indien in diesem
Monat durchleidet, etwa einmal in 50 Jah-
ren erlebt«, sagt die Klimaexpertin Mariam
Zachariah, die am Imperial College in
London forscht. Nun kommt so ein Ereignis
viel häufiger vor – etwa alle vier Jahre. GUI

Praful Gangurde / Hindustan Times / IMAGO

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