Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Fotos:

Ruth Fremson/The New York Times/laif, Sven Görlich

100 FOCUS 18/2022

Maxim Leo, 52
Sein neuestes Buch
„Der Held vom
Bahnhof Friedrich-
straße“ ist gerade
erschienen (KiWi)

A


ls ich zehn oder elf Jahre alt
war, erklärte mir mein Vater,
wie ich mich zu verhalten
habe, wenn mir ein anderer
Junge gegenübersteht, vor dem ich
ein bisschen Angst habe. „Immer
zuerst zuschlagen“, sagte er, „damit
der andere gar nicht erst auf dum-
me Gedanken kommt.“ Mein Vater
hatte sich diese Lebensweisheit als
Kind im zerbombten Berlin erwor-
ben. Ich erinnere mich daran, wie
er einmal einen Kerl verprügelte,
der sich in der Schlange vor dem
Schwimmbad vorgedrängelt hatte.
Ich war stolz auf meinen Vater und
hielt seine Reaktion für die einzig
angemessene.
Daran musste ich denken, als ich Will Smith bei der Oscar-
Verleihung den Moderator ohrfeigen sah. Der Typ hatte einen
blöden Witz über die Frau von Will Smith gemacht. Ich dachte:
Gut gemacht, Will! Und war dann echt verwundert, als ich von
den ablehnenden Reaktionen hörte, von „toxischer Männlich-
keit“, und ich dachte: häh? Er hat seine Frau verteidigt, wie
jeder anständige Mann es auch getan hätte! Stutzig wurde ich
erst, als ich die Sache mit meinen Töchtern diskutierte, die es
total peinlich und machohaft fanden, dass Männer heute
immer noch denken, sie müssten die Ehre ihrer Frauen mit
Gewalt verteidigen. Zumal es ihnen, so vermuteten zumindest
meine Töchter, doch immer nur um ihre eigene Ehre ginge.
Was mich an meine letzte eigene Gewalterfahrung vor
mindestens 15 Jahre erinnerte. Ich war mit meiner sechsjähri-
gen Tochter Anais im Supermarkt, und ein Mann stieß ihr
mit seinem Einkaufswagen in den Rücken. Ich hielt das
für ein Versehen, bat ihn höflich, sich besser vorzusehen
(was mein Vater vermutlich für einen Fehler gehalten
hätte) und dachte, die Angelegenheit wäre damit ge-
klärt. War sie aber nicht, weil der Mann erneut in voller
Absicht meiner kleinen Tochter in den Rücken stieß
(was wiederum bewies, dass die Lebensweisheit mei-
nes Vaters nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist).
An den Rest kann ich mich selbst nur noch bruchstück-
haft erinnern, ich weiß, dass ich den Mann am Kragen
gepackt habe, wie ich es so oft bei meinem Vater gese-
hen hatte. Dann lag er blutend am Boden, und meine
Tochter fing an zu heulen.
Ich habe jetzt oft gelesen, der Mann sei der Verlierer
der Moderne, unflexibel, sexistisch, rücksichtslos. In
einem Artikel las ich den schönen Satz: „Der moderne


Mann befindet sich in Phase eins
der Trauer über die verlorene
Macht, in der Phase also, in der der
Verlust noch geleugnet wird.“
Ich glaube, ich bin in Phase zwei,
ich möchte gar nichts mehr leug-
nen. Ich habe mich selbst bis vor
Kurzem für fortschrittlich gehalten
(heimlich tue ich das noch immer).
Vor allem habe ich mich nicht als
Problem gesehen, ich meine, ich
koche, ich wasche ab, ich umsorge
meine Töchter, bin meiner Gattin
ein geduldiger Zuhörer und sexuell
aufgeschlossener Partner. Nebenbei
verdiene ich auch noch ein wenig
Geld, und wenn das Klo verstopft
ist, dann ist das ganz klar mein Job.
Macht im eigentlichen Sinne habe ich nie besessen, was jeder
versteht, der je mit einer Ehefrau und zwei Töchtern zusam-
mengelebt hat. Weshalb ich diese Macht auch nicht verlieren
konnte. Dachte ich zumindest.
Denn meine Töchter haben mir erklärt, ich als Mann sei
Teil eines strukturellen Problems. Und meine eigene Blindheit
ergebe sich aus der bequemen Warte des Mächtigen, der die
Probleme nicht kennt, weil er sie nicht erleiden muss. Es sei
wie mit den Weißen, die über die Verletzlichkeit der Schwar-
zen staunen. Oder wie mit den Heteros und den Schwulen.
Ich habe meinen Töchtern zugehört. Ich verstehe, was sie
meinen, und bin einverstanden. Und gleichzeitig verstehe ich
gar nichts und finde das alles total übertrieben.
Darf ich offen sein? Dass das zeitgenössische Männerbild so
ranzig ist, das Image so schlecht, macht mich ganz fertig. Sind
Männer wirklich so verdammungswürdig? Manchmal denke
ich: ja! Wenn ich Putin sehe. Oder Trump. Oder Boris Johnson.
Was ja mehr oder weniger Männerkarikaturen sind,
schlimmer als mein Vater und leider auch mit deutlich
mehr Einfluss. Und manchmal denke ich: nein! Weil
der Mann sich in den vergangenen Jahrzehnten ver-
ändert hat. So wie auch die Frau. Vieles ist dadurch
besser geworden, manches vielleicht schlechter. Ver-
änderung führt zu Unsicherheiten, Komplikationen,
Orientierungsproblemen. Das kann man in der Summe
dann als Krise des Mannes bezeichnen. Oder aber als
Entwicklung. Mental gesehen stehe ich heute irgend-
wo zwischen meinem Vater und meinen Töchtern, von
beiden erreichbar. Und gleichzeitig allein, in einer Art
Mixed Zone der Bräuche und Realitäten. Ich finde, das
ist okay so. Es ist keine Krise, eher eine Chancen

Für die Ehre? Will Smith (r.) ohrfeigte bei der Oscar-Gala Moderator
Chris Rock. Der hatte einen blöden Witz über Smiths Frau gemacht

Viele 50-Somethings wuchsen mit Vätern auf, für die Gewalt eine Option war. Und haben


nun Töchter, die das toxisch finden. Über eine verunsicherte Männergeneration


„Immer zuerst zuschlagen“


Von Maxim Leo
Journalist und Bestsellerautor („Es ist nur eine Phase, Hase“)

MEINUNG

Dieser Text


zeigt evtl. Pro-


bleme beim


Text an Die schönsten Seiten


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