Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TAGEBUCH

Diese Begründung ist hinfällig, seit er
in eigener Sache herumeiert. Auch die
Mentalität des Vizechefs müsste er ab -
geschüttelt haben, seit er das Kanzleramt
steuert. Als Chef von Deutschland, als
Häuptling einer Ampelkoalition und als
wichtige Figur der EU in Brüssel müsste
er sich durch ein paar markante Formu-
lierungen als Führungsspieler profilieren.
Das rhetorische Charisma des fran -
zösischen Bestimmers Macron lässt sich
nicht lernen, aber in Positionen könnte
Scholz gleichziehen. Seine eigene Partei
und auch etliche Partner in Europa erwar-
ten diese Rolle von ihm, aber er liefert
nicht. Kürzlich sprach ich mit einem wich-
tigen Sozialdemokraten über den Aus-
weichtick von Scholz. Er überraschte
mich mit einer Parodie, die offenbar unter
Genossen kursiert. Der Kanzler wird nach
dem Tageswetter befragt und verweist
auf die notwendigen Abstimmungen mit
den EU-Partnern.
Was bremst Olaf Scholz? Ich speku -
lie re, dass er Angst hat. Angst vor Blama-
ge, Angst vor Attacken und auch Angst
vor dem eigenen Hochmut.
Es ärgert ihn, dass er im Zusammen-
hang mit dem G20-Gipfel in Hamburg
vom Hafengeburtstag gesprochen hat.
Dass er sich an Gespräche mit einer
Hamburger Bank wegen Cum-Ex-Pro-
blemen nicht erinnern wollte, ist fast
schon strafrechtlich relevant. Seine ak -
tuelle Abqualifizierung von politischen
Kritikern als „Jungs und Mädels“ wird
ihn lehren, noch vorsichtiger zu reden.
Wenn er diesen Stil beibehält, ist er selbst
dafür verantwortlich, dass er in Berlin und
in Brüssel als Mitläufer betrachtet wird.

Dienstag

D


ie allgemeine Erleichterung über die
Wiederwahl von Emmanuel Macron
zum Staatspräsidenten von Frank-
reich kann die Europäer und vor allem
uns Deutsche nicht beruhigen.
Seine Gegenkandidatin Marine Le Pen
hat mit einer offen deutschenfeindlichen
Kampagne 41,5 Prozent der Stimmen auf
sich vereinigt. 41,5 Prozent – das sind
in absoluten Zahlen 13 297 728 Wähler-
stimmen. Mehr als 13 Millionen Franzö-
sinnen und Franzosen haben auch ge-
gen Deutschland votiert, gegen die enge
Partnerschaft zwischen Paris und Berlin.
Und vor allem gegen die zunehmende
Dominanz der Bürokraten in der Brüs-
seler Kommission. Mit ihrer Parole vom
Europa der Vaterländer trifft Le Pen
eine breite Stimmung, die sich bei den
Wahlen im Juni auch im französischen
Parlament widerspiegeln kann. Macron
hat keine funktionierende Partei hinter
sich. Er hat gesagt, dass er die 40 Prozent
ernst nimmt. Eine Reform der EU wäre die
richtige Konsequenz.

FOCUS-Gründungschefredakteur Helmut Markwort ist
seit 2018 FDP-Abgeordneter im Bayerischen Landtag. Fotos:

dpa, Getty Images

114 FOCUS 18/2022

Montag

D


as sinkende Ansehen von Olaf
Scholz hat wesentlich damit zu tun,
dass er mit vielen Worten wenig
sagt. Die Verschleierung seiner Gedan-
ken praktiziert er mit zwei Methoden: als
Solist und im Dialog.
Wenn er eine Rede hält, spart er zwar
nicht mit Worten, aber mit Inhalt.
Wenn er in Interviews konkret gefragt
wird, gibt er sich die größte Mühe, abs-
trakt zu antworten.
Wer die Texte analysiert, könnte den
Eindruck gewinnen, der Kanzler set-
ze seine Leidenschaft daran, möglichst
kunstvoll auszuweichen.
Erste Übungen in dieser Disziplin ab-
solvierte er vor zwanzig Jahren, als er
Gerhard Schröder als Generalsekretär
diente. Seine Abwehrformeln brachten
ihm den Spottnamen „Scholzomat“.
Damals, von 2002 bis 2004, hätte er
seine Anstrengungen, wenig zu sagen,
damit rechtfertigen können, dass er ja
im Dienste seines Chefs zu sprechen und
diesen zu schützen hatte.

Antideutsch Mit ihrer Kampagne gegen Deutsch-
land hat Le Pen Millionen Wähler gewonnen

Eiertexte Kanzler Olaf Scholz verfeinert seine
Kunst, mit vielen Worten wenig zu sagen

Wie Olaf Scholz sich in eine Mitläuferrolle redet und


wie „antideutsch“ in Frankreich funktioniert


von Helmut Markwort
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