Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
POLITIK

Angriffslustig CDU-Chef
Friedrich Merz warf Scholz
Unentschlossenheit vor. Einen
eigenen Antrag zu Waffenlie-
ferungen zog die Union zurück

30 FOCUS 18/2022

D


er Bundeskanzler sitzt da
und schweigt. Am Mitt-
wochnachmittag dieser
Woche lässt Olaf Scholz
seinen Finanzminister
und seine Verteidigungs-
ministerin im Bundestag
erklären, wie sie sich das
Sondervermögen über 100 Milliarden Euro
für die Bundeswehr vorstellen. Am Tag
zuvor hatte man eine Kehrtwende hinge-
legt und der Ukraine die Lieferung deut-
scher Panzer zugesagt. Jetzt wäre also der
ideale Zeitpunkt für den Kanzler, um zu
erklären, wieso er das für richtig hält. Doch
Scholz schweigt. Nestelt am schwarzen
Mundschutz, schaut ausgiebig aufs Handy
und – schweigt.
Aufreizend laut.
Dabei hatte der Kanzler am Dienstag-
nachmittag, etwa 24 Stunden zuvor, noch
eine Rede gehalten. In der SPD-Fraktions-
sitzung überraschte er die etwa 200 Abge-
ordneten mit einer stringenten Argumen-
tation, berichten die, die dabei waren.
Am Ende waren sogar seine schärfsten
Kritiker von Panzerlieferungen an die
Ukraine überzeugt – oder zumindest nicht
dagegen. Der SPD-Linke Ralf Stegner
zeigte sich so begeistert von den Aus-
führungen, dass er sich wünschte, Scholz’
Rede würde getwittert werden. Es war ein
unfreiwilliger Hilferuf: Erklär dich end-
lich! Doch das tat er nicht.
Aus Unvermögen? Aus Trotz? Aus Hy -
bris? Egal. Scholz bleibt einfach stumm.
Ein Kanzler ohne Worte? Das wäre, nein,
das ist: ohne Worte.

Verhakt in einer Vertrauenskrise
Mehr als zwei Monate ist es nun her,
dass Olaf Scholz die Zeitenwende ver-
kündete. Nichts weniger als eine neue
Energie-, Sicherheits- und Verteidigungs-
politik entwarf der Kanzler damals für das
reichste und einflussreichste Land Euro-
pas. Scholz entschied sich für Waffen-
lieferungen, obwohl das in Deutschland
lange als Tabu galt. Scholz führte, so wie
er es im Wahlkampf versprochen hatte.
Gerade einmal zwei Monate später aber
läuft der SPD-Mann, so scheint es, allen
Entwicklungen hinterher. Ob es um die
Bündnispartner oder die eigene Koalition
geht – es steht die immer gleiche Frage
im Raum: Können wir diesem Mann ver-
trauen? Vertrauen, dass er alles tut, damit
der Krieg endet? Vertrauen, dass er die
Ukraine mit aller Kraft unterstützt? Ver-
trauen, dass er Deutschlands Rolle in der

Welt entschlossen ausfüllt? Oder schweigt
Olaf Scholz sein Land zugrunde?
Es ist, als stehe Olaf Scholz, dieser
altbekannte, tausendfach geprüfte Polit-
stratege unter Verdacht, nicht alles preis-
zugeben. Eine hidden agenda zu verfol-
gen. Man wird nicht schlau aus ihm. Eine
Sphinx. Der Ungreifbare. Der Undurch-
dringliche. Seine Signale der vergan-
genen Wochen zeigten nicht Führung,
sondern Slalom. Er hielt eine Rede voller
Tatendrang – und lavierte dann herum. Er
verwehrte deutsche Panzer – und plötzlich
geht es doch. Er lungerte auf der Regie-
rungsbank – und flog dann schweigend
nach Japan.
Noch im Wahlkampf schien Scholz’
Schweigen Ausdruck von Souveränität.
Während seine Mitbewerber nervöser
wurden und patzten, zog Scholz unbe-
irrt und wortkarg sein Ding durch. Der
damalige Vizekanzler inszenierte sich als
derjenige, der einen Plan für das Land
habe. „Scholz’ Schweigen war einst sei-
ne Stärke, jetzt ist es seine Schwäche“,
sagt der Politologe Albrecht von Lucke,
der in den „Blättern für deutsche und
internationale Politik“ regelmäßig die
Weltlage analysiert. Ein Land im Kriegs-

Der Kanzler versprach dem Land eine Zeitenwende.


Jetzt muss er beweisen, dass er es damit ernst meint

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