Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Foto: Nikita Teryoshin


FOCUS 18/2022 33

„Mein Eindruck ist, dass die Strack-Zim-
mermanns, Hofreiters und Roths deutlich
stärker medial präsent sind als die andere
Seite. Was die drei sagen, ist der deutsche
Mainstream, den man zu vertreten hat –
egal ob man in der Koalition, der Union,
in der Wissenschaft oder im Journalis-
mus ist.“ Von dieser dominierenden Mei-
nung sei „keine Abweichung erlaubt“.
Aus seinen Worten spricht: Verletzung.
Wir gegen den Rest. Es scheint, als habe
sich ein Teil der SPD in eine Wagenburg
zurückgezogen. Für Scholz geht es nun
nicht nur darum, das Notwendige zu tun.
Er muss Leuten wie Stegner klarmachen,
dass Pazifismus gerade einfach nicht hilft.
Nicht wenige fordern, die Ukraine müs-
se den Krieg gewinnen. Scholz sagt das
nicht. Seine Formel lautet: Putin wird den
Krieg nicht gewinnen. Was nach Spitz-
findigkeit klingt, ist ein Streit darüber,
wie weit Deutschland gehen soll. Die
Denkschule des Kanzlers erklärt der
außenpolitische Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion Nils
Schmid so: „Wer den Krieg
schnell beenden will, muss
die Ukraine bewaffnen. Je
erfolgreicher sich die Ukraine
verteidigt, desto wahrschein-
licher werden ernste Friedens-
verhandlungen.“
Nur – wie sieht ein Sieg der
Ukraine eigentlich aus? Das
Land könnte die russischen

Truppen so weit zurückdrän-
gen, dass der Zustand vom


  1. Februar, dem Tag des An-
    griffs, wiederhergestellt wird.
    Das könnte einige Monate
    dauern. Oder will der ukrai-
    nische Präsident das gesam-
    te Land zurückerobern, also
    auch die schon länger besetz-
    ten Gebiete in der Ostukraine sowie die
    Krim? Das würde einen jahrelangen
    Kampf erfordern.


Die deutsche Rolle in der Welt
Scholz spricht nicht über diese Gedanken-
spiele. Er sagt lediglich: „Einen Diktat-
frieden, wie er Putin lange vorgeschwebt
hat, wird es nicht geben.“ Russland dürfe
nicht bestimmen, wie Grenzen in Euro-
pa gezogen werden. Das ist eine innere
Überzeugung von Scholz, die er Putin im
Februar bei seinem Besuch in Moskau
ins Gesicht sagte. Von Nato-Generalse-
kretär Jens Stoltenberg ist aus
einer internen Sitzung das Zitat
überliefert: „Es wäre schreck-
lich, wenn Russland siegt, aber
womöglich noch schrecklicher,
wenn es verliert.“ Was er meint:
Eine Demütigung Russlands
könnte die Welt zur Explosion
bringen.
Olaf Scholz steht nicht al-
lein mit seiner zögernden Vor-
sicht. Doch er wird derzeit so

hart kritisiert wie kaum ein anderer.
Auch Emmanuel Macron hat sich lange
gegen Panzerlieferungen gewehrt. Ihm
aber schenkten die Franzosen eine zweite
Amtszeit.
Woher also kommt die besondere Un-
geduld in In- und Ausland gegenüber
dem Deutschen?
Es könnte sein, dass die Deutschen vom
Kanzler eine Klarheit über Rolle und Wir-
ken ihres Landes erwarten, die sie selbst
noch immer nicht haben. Wie selbstbe-
wusst, wie bestimmend soll sich Deutsch-
land verhalten – mit der Bürde seiner Ge-
schichte und seiner schieren einschüch-
ternden Größe? Wollen wir die Führung
übernehmen? Sollen wir? Worauf lassen
wir uns da ein?
Manchmal hilft es auch,
jene zu fragen, die von außen
draufschauen, den Washing-
toner Deutschland-Experten
Jeffrey Rathke zum Beispiel.
Beinahe ein Vierteljahrhun-
dert lang arbeitete Rathke für
das US-Außenministerium.
„Es gibt eine große Frustrati-
on hier in den USA“, sagt der
Direktor des amerikanischen
Instituts für Deutschland-
forschung AICGS. „Man hat
einen natürlichen Wunsch,
dass Deutschland entspre-
chend seiner Kapazitäten
und Ressourcen seinen Beitrag leistet.“
John Kampfner vom britischen Poli-
tikinstitut Chatham House appelliert an
die Bundesregierung: „Deutschland ist
ein Verteidiger der liberalen Demokratie,
aber die eigenen Prinzipien sind nichts
wert, wenn man sie nicht mit Kraft und
robuster Politik verteidigen will.“ Kampf-
ner erinnert an die Berliner Luftbrücke:
In dieser heroischen und für die deut-
sche Geschichte so bedeutsamen Stunde
hatten die Alliierten eine Eskalation mit
den Sowjets riskiert. Das Risiko wurde
bewusst eingegangen, um den Menschen
in Berlin zu helfen.
Lange Zeit haben sich die Deutschen
lediglich als ökonomische Großmacht
gesehen, ums Militärische durften sich
die USA, Großbritannien, Frankreich und
die anderen kümmern. Diese Zeiten sind
nun mal vorbei. In einem Interview mit
dem US-Nachrichtenmagazin „Time“
erklärte Scholz Deutschlands Bedeutung
so: „Wir müssen stark genug sein. Nicht
so stark, dass wir eine Gefahr für unsere
Nachbarn sind. Aber stark genug.“ n

Ist Olaf Scholz
ein guter
Bundeskanzler?
Schreiben Sie
uns an
leserbriefe@
focus-magazin.de

LESERDEBATTE

Bessere Zeiten Am


  1. November stellten
    die Ampelparteien
    ihren Koalitionsver-
    trag vor, die Moderni-
    sierung des Landes
    sollte im Mittelpunkt
    der Agenda stehen.
    Nun geht es um einen
    Krieg mitten in Europa


„Deutschlands Moment“
Das Magazin „Time“ machte
Scholz jüngst zur Titelfigur
Free download pdf