Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

POLITIK


P

34 FOCUS 18/2022


A


uf dem Weg von Brüssel nach
New York legt Radek Sikorski
einen kurzen Zwischenstopp
in Warschau ein. Der polni-
sche Europa-Abgeordnete
arbeitet in mehreren außen-
und sicherheitspolitischen
Ausschüssen und leitet die Delegation
für die transatlantischen Beziehungen.
Seine Biografie prädestiniert ihn für In -
ternationales. Der 59-jährige Politologe
und Oxford-Absolvent bereiste als Kriegs-
reporter Afghanistan. Er war Außen- und
Verteidigungsminister. 2014 versuchte er,
bei den Protesten auf dem Majdan in Kiew
im Namen der EU zu vermitteln. Auch
sein Privatleben ist international – er ist
verheiratet mit der US-Publizistin Anne
Applebaum, einer Osteuropa-Historikerin.
Zum Gespräch mit FOCUS erscheint der
zackige „Kosmopole“ trotz seiner vielen
Verpflichtungen überpünktlich und in
seinem typischen British-Style-Jackett.


Herr Sikorski, als Polens Außenminister haben
Sie 2011 für Schlagzeilen gesorgt, weil Sie
Berlin zum Handeln drängten mit den Worten:
„Ich habe keine Angst vor deutscher Über-
macht, ich fürchte deutsche Untätigkeit.“
Mein Eindruck ist, dass sie noch immer
aktuell sind.
Deutschland wird jetzt von allen für sein
Zögern in der Ukraine-Krise kritisiert – und
was werfen Sie der Bundesregierung vor?
Es läuft nicht gerade gut für die Deut-
schen. Doch das Vertrauen haben sie
selbst zerstört, etwa weil sie Nord Stream
umgesetzt haben, entgegen aller Warnun-
gen aus unserem Teil Europas. Oder weil
deutsche Politiker sich und die Öffentlich-
keit zu lange mit diesem Mantra aus dem
postmodernistischen Nirwana einlullten,
dass es keine militärische Lösung für Kon-
flikte geben darf. Das mag in Deutschland
edel klingen. Aber wenn man ein Flan-
kenstaat ist, wie Polen oder die baltischen
Länder, sieht die Sache anders aus. Wenn
unsere Gegner militärische Lösungen in
Betracht ziehen und wir ihnen entgegnen:
„Sorry, dies ist für uns keine Option“ –
dann ergeben wir uns doch de facto.
Ist Pazifismus nicht ein hehres Anliegen?
Ich glaube, Deutschland vergisst seine
jüngste Geschichte. Es ist selbst zu einem
Viertel ein postkommunistisches Land.
Noch vor gar nicht so langer Zeit war es
auch ein Flankenstaat, in dem 300 000 US-
Soldaten stationiert waren. Und deren Job
war es ja gerade abzuschrecken. Inzwi-
schen ist Deutschland ausschließlich von
befreundeten Staaten umgeben. Es wäre
angemessen, die Sensibilitäten der Länder
zu verstehen, die nicht nur von Freunden


umgeben sind, denn sie müssen sich mit
den revisionistischen Plänen Putins ausei-
nandersetzen, der den Zerfall der Sowjet-
union rückgängig machen will.
Putin behauptet, nur die Gefahr ab-
wenden zu wollen, die von der nach
Osten expandierenden Nato ausgehe.
Es lohnt sich nachzulesen, was Putin
wirklich denkt, zumal er das ganz offen und
ehrlich mitteilt, etwa auf dem Nato-Gipfel
2008, auf der Münchner Sicherheitskon-
ferenz 2007 oder voriges Jahr in seinem

Essay über die Entstaatlichung der Ukra-
ine. Als ich gehört habe, dass alle russi-
schen Berufssoldaten verpflichtet wurden,
dieses Essay zu lesen, wusste ich, dass es
Krieg geben wird.
Warum wurde dann der Westen
derart davon überrascht?
Die Amerikaner waren es nicht. Sie
haben innovativ ihre Geheimdienstkom-
petenzen genutzt und konnten sehr präzi-
se vor der anstehenden Invasion warnen.
Es soll jetzt nicht gemein wirken, aber ich

Polens Ex-Außenminister Radek Sikorski hat sich einst als


Kritiker mangelnden deutschen Führungswillens hervorgetan.


Und jetzt? Vermisst er Sensibilität für die Ängste Osteuropas


„Schwäche provoziert Putin,


nicht Stärke. Stärke schreckt ab“


Konservativer
Kosmopolit
Europäer aus
Lebenserfahrung:
Seit 2019 reprä-
sentiert Sikorski
Polens liberale
Bürgerplattform
in Brüssel
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