Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
DIPLOMATIE

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Ich will
nicht
im
Putinismus
leben

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FOCUS 18/2022 35


darf daran erinnern, dass der Chef des
deutschen Geheimdienstes, Bruno Kahl,
noch am Vortag des Angriffs in Kiew war
und den Ukrainern sagte, es werde keine
Invasion geben. Am nächsten Tag musste
er evakuiert werden.
Deutschland schickt in die Ukraine Waffen,
Munition, humanitäre Hilfe, hat Milliarden
Euro an Unterstützung gezahlt. Und dennoch
hagelt es Kritik, dass das alles zu wenig sei.
Ich weiß nicht, wie viel das gemessen
am BIP ist. Die Tatsache, dass der Besuch
des Präsidenten Frank-Walter Steinmeier
in Kiew unerwünscht war – ein Affront,
den ich für einen Fehler der Ukrainer
halte –, lässt mich jedoch annehmen,
dass Deutschland nicht alle Zusagen des
Kanzlers Olaf Scholz erfüllt hat.
Die Ukraine lastet Steinmeier seine
Russlandpolitik der SPD an.
Auf ihm lastet vor allem eine enorme
Verantwortung, er steht für die SPD, auch
wenn er jetzt als Präsident überparteilich
ist. Und manche in der SPD finden, dass
der beste Weg zum Frieden die Kapitu-
lation der Ukraine sei – für uns in Polen
ein sehr erschreckender Gedanke. Außer-
dem finden sich in den Reihen der SPD
überraschend viele Menschen, die für
Russlands Interessen gewonnen oder ge-
kauft wurden.
Sie meinen Gerhard Schröder? Wäre die
Wahrnehmung eine andere, wenn die
Partei sich von ihm distanziert hätte?
Es ist mir unbegreiflich, warum das
noch nicht geschehen ist. Wenn jemand
als Regierungschef Staatsgarantien für
das Nord-Stream-Projekt gewährt und
nur wenige Wochen später persönlich
von dieser Entscheidung profitiert, dann
klingt das doch sehr nach einem heftigen
Interessenkonflikt.
Auch das Zögern bei der Lieferung schwe-
rer Waffen ist Grund für Kritik. Dabei verweist
die Regierung doch auf ihre geschicht-
liche Verantwortung – nie wieder sollten
deutsche Panzer in Osteuropa rollen.
Das Gegenteil stimmt. Gerade die deut-
sche Geschichte verpflichtet die Bundes-
republik, den Opfern der Aggression zu
helfen. Wenn Deutschland wirklich nach
der Maxime handeln will, nie wieder an
militärischen Operationen teilzunehmen,
dann sollte man besser die Bundeswehr
abschaffen – ist ja schade um das viele
Geld jedes Jahr.
Die Lieferung schwerer Waffen
trägt dazu bei, dass blutige Kämpfe
fortdauern – und auf beiden Seiten
noch mehr Menschen sterben.
Ich bete für die Opfer, nicht für die
Angreifer. Die russischen Soldaten haben
kein Recht, in der Ukraine zu sein.


Kanzler Scholz erklärt, er tue alles,
um eine Eskalation zu verhindern, die
zu einem Dritten Weltkrieg führt.
Niemand will die direkte Konfrontation
des Westens mit Russland. Aber Putin
muss gestoppt werden. Schwäche pro-
voziert Putin nur, nicht Stärke. Stärke
schreckt ab. Unser Gespräch findet in
Warschau statt, das mehr als hundert Jahre
von den Russen okkupiert wurde. Ich will
nicht im Putinismus leben.
Glauben Sie, dass Putin weitere
Länder angreift?
Er sagt, dass es Lenins größter Fehler
war, in der Verfassung der Sowjetunion das
Recht auf Unabhängigkeit der Republiken
festzuschreiben. Es gibt bereits russische
Truppen in Armenien, in Georgien, kürz-
lich waren sie in Kasachstan. Die balti-
schen Staaten, jetzt Nato-Mitglieder, sind
ehemalige Sowjetrepubliken.
Sie könnten Putins Begehr-
lichkeiten wecken. Der Wes-
ten – gewiss auch Deutschland


  • sollte daher die Ukraine mit
    allen Mitteln unterstützen.
    Die Ukraine muss gewinnen,
    Putin muss verlieren. Wenn
    wir ihn bereits auf dem Terri-
    torium der Ukraine abwehren,
    müssen wir später nicht selbst
    gegen ihn kämpfen.
    Macht Putins Drohung, Atom-
    waffen einzusetzen, diesen
    Konflikt so präzedenzlos?
    Die Nato verfügt ebenfalls
    über nukleares Potenzial.
    Der Tag, an dem Putin Atom-
    sprengköpfe abfeuert, wird sein letzter
    sein. Ich hoffe, ihm ist das klar.
    Vorigen Mittwoch hat Putin tatsächlich
    die Gaslieferung nach Polen und Bulgarien
    gestoppt. Was bedeutet das für Ihr Land?
    Ich verstehe nicht, warum er einen Ver-
    tragsbruch wegen einer so banalen Frage
    riskiert: Denn welchen Unterschied macht
    es schon, ob der Käufer oder aber der Ver-
    käufer den Betrag in Rubel umtauscht?
    Doch Polen hat bereits ein Terminal für
    Flüssiggas gebaut, die Nordsee-Pipeline
    ist fast fertig, unsere Gasspeicher sind voll.
    Wir machen uns mehr Sorgen um Deutsch-
    land. Putin hat uns eine interessante Auf-
    gabe im Fach „Europäische Solidarität in
    der Energiefrage“ gestellt. Ich hoffe, dass
    wir alle, Deutschland eingeschlossen, die-
    ser Aufgabe gewachsen sind.
    Können die bisher verhängten Sanktionen
    Putin zwingen, die Aggression zu beenden?
    Putin verschleißt seine Armee, er hat
    schon ein Drittel der Invasionstruppen ver-
    loren. Je schwieriger es für ihn ist, die
    Kampfkraft wiederherzustellen, desto


mehr Zeit gewinnen wir zur Vorbereitung.
Vielleicht wird in der Zwischenzeit jemand
anderes im Kreml an die Macht kommen,
jemand, der vernünftiger ist und zur
Kooperation mit dem Westen zurückfindet.
Wie soll denn jemand anderes
an die Macht kommen?
Vielleicht findet sich ein russischer Pa-
triot. Die Russen sehen doch, dass das, was
Putin tut, Wahnsinn ist. Er hat die Reputa-
tion und die Wirtschaft Russlands vernich-
tet, das Land völlig isoliert. Man denke
an das Schicksal Indira Gandhis, die von
ihren Leibwächtern erschossen wurde,
nachdem sie einen heiligen Sikh-Tempel
stürmen ließ. Vielleicht hat Putin einen
Bodyguard mit einer Oma in Mariupol?
Sehen Sie gar keine Chance, den Konflikt
auf dem Verhandlungsweg zu lösen?
Doch, aber erst, wenn Putin erkennt, dass
die Fortführung des Krieges
für ihn kostspieliger ist als der
Waffenstillstand oder Frieden.
Die Ukraine hat oft erklärt,
auf den Nato-Beitritt zu ver-
zichten. Wenn das der Grund
für den Krieg war, hätte Putin
ja sein Ziel erreicht, er könnte
aufhören. Ich möchte Kanzler
Scholz loben, dass er in Mos-
kau öffentlich die Garantie
anbot, die Ukraine nicht in
die Nato aufzunehmen, wenn
Russland nicht einmarschiert.
Er stellte damit Putins vor-
geschobenen Grund für den
Angriff bloß.
Wie soll der Westen
künftig mit Putin umgehen?
Putin ist toxisch und gehört vor den
Internationalen Strafgerichtshof. Auch
wenn er dieses Gericht nicht anerkennt:
Die Ukraine hat dem Gericht die Zustän-
digkeit für ihr Territorium übertragen.
Überwiegt bei Ihnen also die Zuversicht,
dass am Ende Recht und Demokratie immer
siegen werden?
Unser Fehler in Europa, auch in Polen,
war, dass wir nach dem Ende des Kom-
munismus geglaubt haben, Demokratie
und freie Marktwirtschaft sind so offen-
sichtlich der bessere Weg, dass sie keiner
Argumente mehr und keiner Verteidigung
bedürfen. Heute, da in Europa der Popu-
lismus und in Russland der Faschismus
erstarken, sehen wir, dass wir die Demo-
kratie pflegen und sie schützen müssen.
Wir müssen eben entscheiden, ob es Ideen
gibt, für die wir bereit sind zu kämpfen
und das Leben zu riskieren, oder ob nur
das pure biologische Überleben zählt.n

INTERVIEW: MARGOT ZESLAWSKI
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