Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

POLITIK


38 FOCUS 18/2022


von Heimatverbundenheit, Zusammen-
halt und der allgegenwärtigen Gelassen-
heit. Das passe zu Günther, der quasi die
schleswig-holsteinische DNA verkörpere.
Der Ministerpräsident stammt ursprüng-
lich aus Kiel, wohnt jetzt in Eckernförde.
In der Koalition versuche er, den Partnern
eine Plattform zu geben, anstatt sich in
allem durchsetzen zu müssen. Er sei klar
in der Kommunikation, manchmal etwas
einsilbig und immer unaufgeregt.
Diese Eigenschaften halfen Günther, die
Schleswig-Holsteiner ziemlich glaubwür-
dig durch die vergangenen zwei Jahre der
Pandemie zu manövrieren. Seine Regie-
rung trat geschlossen auf: Was Jamaika
beschloss, verkündeten Günther, Finanz-
ministerin Monika Heinold (Grüne) und
Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP)
gemeinsam. Kontroversen wurden intern
geklärt und nicht nach außen getragen.


Weniger schreien, mehr machen


Günther, 2017 noch ziemlich unbekannt,
erarbeitete sich mit seinem Politikstil aus
Pragmatismus und gleichzeitiger Offen-
heit für politische Progressivität in fünf
Jahren Beliebtheitswerte, von denen die
meisten Ministerpräsidenten nur träu-
men können. In der konser-
verativeren CDU in Sachsen
wäre für den 48-Jährigen der
Aufstieg wahrscheinlich um
einiges schwerer gewesen. Im
liberalen Schleswig-Holstein
aber scheint er perfekt zu
passen zur Seele des Landes.
Die Werdung dieser spezi-
ellen Seele kann erforschen,
wer sich ins Freilichtmuseum
in Molfsee begibt, knappe
zehn Kilometer vom Kieler
Hafen in Richtung Südwesten.


Auch Wendt, studierter Betriebswirt und
Familienvater, ist CDU-Mitglied – eine
Art perfekte Kombination christlicher
Werte und norddeutscher Eigenschaften,
auf die man hier so stolz ist. Aufgeschlos-
sen, aber entlang konservativer Überzeu-
gungen, umweltbewusst, aber aus einer
frommen Haltung heraus, bodenständig,
sozial und fair. Nicht unbedingt das, was
sein Vorsitzender Friedrich Merz in Berlin
bisher bedient.
Wendt meint, dass der Begriff „Unauf-
geregtheit“ am besten den Kern der Men-
schen in Schleswig-Holstein beschreibe.
Die Abhängigkeit von
der Natur, von Wind und
Wetter, das sei der Grund
für die Gelassenheit hier
oben. Bringe ja nichts,
sich aufzuregen. Am Ende
kommt es, wie es kommt,
so oder so. Große Sturm-
flut, Matrosenaufstand –
historische Krisen, davon
gab es hier genug, hätten
immer den Zusammenhalt
gestärkt. Wenn es hart auf
hart kommt, muss man
sich aufeinander verlassen
können.
Hier oben geht es sel-
ten um Ideologie. Die Menschen finden
gut, was Sinn macht. Und so ist es kein
Zufall, sondern dem Wind und diesem
Geist geschuldet, dass das Bundesland
Spitzenreiter in Sachen Windenergie ist.
Schon heute produziert Schleswig- Hol-
stein mehr Strom aus erneuerbaren Ener-
gien, als das Land benötigt. Das lockt
Unternehmen, die darauf bauen, aus grü-
nem Strom ihre Produkte herzustellen
und die Produktion an Standorten auf-
zubauen, an denen so die unabhängige
Versorgung gesichert ist. Vor allem im
Kontext derzeitiger Energiekrisen- und
-kriege. Die strukturschwache Region
zwischen Nord- und Ostsee könnte in
den nächsten Jahren eine massive In-
dustrialisierung erleben.
Am Hafen in Glückstadt, dort, wo Oli-
ver Schümann sein Glück gefunden hat,
spielt die Zukunftsmusik von Schleswig-
Holstein nur leise. Lieber dreht man die
Schlagermusik auf, um den Moment
zu versüßen. Solange die Ruhe und die
Weite nicht allzu sehr von den großen
Plänen beeinträchtigt werden, wird man
hier wohl die Entscheidungen der Regie-
rung tolerieren, egal wer letztendlich das
Rennen macht. Hauptsache, der Fisch
schmeckt frisch und das Bier ist herb,
denn so lassen die Menschen hier am
liebsten die Seele baumeln.n

Auf dem Kutter
Oliver Schümanns Definition
von Glück: die „Moby Dick“
im Hafen von Glückstadt

On the road
Ein Berliner unterwegs
in Schleswig-Holstein:
FOCUS-Reporter Bruno Gaigl
entdeckt die stillen Weiten
der Genügsamkeit

Eine Art Kultstätte für Wissbegierige der
schleswig-holsteinischen Kulturgeschichte
der letzten 500 Jahre. Man lebte gemein-
sam, alles unter einem Dach, Mensch, Tier,
Vorräte, inmitten von Sturm und Not. Da
braucht es Gelassenheit, das leuchtet ein.
Am 20.April fand hier das Triell statt
zwischen Daniel Günther (CDU), Monika
Heinold (Grüne) und Thomas Losse-Mül-
ler (SPD). Heinold ist die aktuelle Finanz-
ministerin im Kabinett Günther, Losse-
Müller nur wenigen bekannt. Früher als
Staatssekretär bei den Grünen tätig, ist er
erst seit Oktober 2020 Mitglied der SPD.
Manche sagen ihm nach, weil er bei den
Grünen nichts gerissen habe, versuche er
jetzt sein Glück bei der SPD.
Wie im Rest des dünn besiedelten Bun-
deslandes mit seinen 2,9 Mil-
lionen Einwohnern mögen sie
auch in Molfsee keine Macht-
menschen. Und erst recht nie-
manden, der die norddeutsche
Unaufgeregtheit durcheinan-
derwirbelt. „Ein Söder muss
hier gar nicht erst auftau-
chen“, meint Guido Wendt,
Vorstand und kaufmännischer
Geschäftsführer der Landes-
museen Schleswig-Holstein,
zu denen auch das Museum
in Molfsee gehört.

„Ein Söder


muss hier gar


nicht erst


auftauchen“


Guido Wendt,
Vorstand und kauf-
männischer Geschäfts-
führer der Landesmuseen
Schleswig-Holstein
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