Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Foto: imago images/ZUMA Wire


FOCUS 18/2022 45

E


ine Seitenstraße in San Salvador. Unschuldig liegt
sie da, in dieser Stadt, die seit 24 Stunden im Aus­
nahmezustand ist. Die Sonne steht so senkrecht,
dass kaum etwas einen Schatten wirft. Die Luft
kocht. Für das Leben auf der Straße ist es normaler­
weise nur mittags zu heiß. Doch seit der Notstand
ausgerufen wurde, bleiben die Leute auch den Rest
des Tages in ihren Wohnungen.
„Rennt schnell rüber ins Haus. Ihr kommt vom Pastor, dann
lassen sie euch hinein“, sagt Ivan, ein Journalist und unser
Kontaktmann hier in San Salvador. Wir schleichen über die
Straße und klopfen an eine Tür.

In dem Haus leben dreißig Gangmitglieder. Sie sitzen schwei­
gend nebeneinander. Diese Männer haben zusammen mehr
Menschen getötet, als jedes Jahr in Deutschland durch Waffenge­
walt sterben. Sie haben Frauen vergewaltigt, Jugendliche hinge­
richtet, Mütter vor ihren Kindern umgebracht. Sie haben Drogen
verkauft, haben das Böse in die Welt gebracht. Die meisten von
ihnen saßen dafür Jahre im Gefängnis, und jetzt, jetzt sind sie
Ende dreißig und verstecken sich in diesem Haus. Vor Polizisten,
die sie auf der Straße ohne Vorwarnung erschießen, vor anderen
Gangmitgliedern, die auf derselben Straße mit rostigen Mache­
ten erst ihre Arme, dann den Kopf abschlagen. Vielleicht verste­
cken sie sich auch vor ihrer Vergangenheit. Vor dem, was hier,
in diesem Land, normal ist: Gewalt.

Mehr als 70 Morde an einem Wochenende
Es scheint in gewisser Weise der neue Normalzustand der Welt
zu sein. Die Bilder aus der Ukraine, aus Butscha, haben gerade
wieder gezeigt, was Menschen in der Lage sind, sich gegen­
seitig anzutun. Doch hier in El Salvador, das wie viele Länder
Mittelamerikas seit Jahren mit Bandenkriminalität und Gewalt
kämpft, haben Brutalität und Willkür inzwischen eine neue
Qualität erreicht.
Die blutigen Tage, die El Salvador Ende März erlebte, wirken
wie eine Zäsur. Was war passiert? Mehr als siebzig Morde an
einem Wochenende. So viele wie an keinem anderen in den ver­
gangenen zwanzig Jahren. Kinder, Frauen, Männer. Unschuldige
und Schuldige starben. Die Regierung sprach davon, dass Gang­
mitglieder diese Massenmorde begangen hätten, Teile der Bevöl­
kerung behaupten hingegen, die Regierung habe indirekt selbst
gemordet. Was wirklich geschah, was die Gewaltausbrüche
auslöste, wer nun wen angriff, lässt sich nur schwer beurteilen.
El Salvadors Präsident Nayib Bukele rief den Notstand aus. In
der Hauptstadt San Salvador wurden Ausgangssperren verhängt,
und der Auftrag an Militär und Polizei war klar: Gangmitglieder
dürfen gejagt, willkürlich festgenommen werden. Jeder, der
tätowiert ist, ist der Feind. Egal, ob er wirklich in einer Gang ist
oder nicht. Innerhalb von zwei Wochen wurden über 9000 Ver­
dächtige inhaftiert, einige auf offener Straße getötet.
El Salvador befindet sich wie der Rest der wieder aufrüsten­
den Welt in einer gefühlten Abwärtsspirale. Was bedeutet Güte,
was bedeutet Frieden, was bedeutet ein Menschenleben, wenn
eine Gesellschaft nichts außer Gewalt kennt? Was, wenn der
Ausnahmezustand wirklich normal wird?
Im Ganghaus in San Salvador riecht es nach Zwiebeln. Aus
einem großen Lautsprecher in der Ecke tönt spanische Musik,
irgendwo läuft ein Fernseher. Mitglieder der Gangs, die MS13
heißen oder Barrio18, drängen sich zusammen. Wer zu welcher
Gruppe gehört, kann man in den Gesichtern lesen, in den Sym­
bolen, die ihnen auf Stirn, Wangen und in Augenwinkel tätowiert
wurden. Zeichen der Zugehörigkeit, die wie eine Visitenkarte
getragen werden. Einer sitzt an der Nähmaschine. Ein anderer
Mann, der nur noch einen Arm hat, fegt den Boden. Sie nicken
zur Begrüßung. In ihren Blicken liegt die Erschöpfung von
Menschen, die sich ewig verstecken müssen, die nichts mehr
haben außer Angst.
„Wollt ihr einen Kaffee?“, fragt der Armlose freundlich. „Mit
Milch und Zucker?“ Es ist ihre Realität, ihre Normalität. Niemand
wird sie daraus befreien.
Obwohl Nayib Bukele eigentlich versprochen hatte, dass alles
besser wird, als er am 3. Februar 2019 El Salvadors Präsident
wurde. Er stand für: weniger Abhängigkeit von den US­Ame­
rikanern, weniger Gangs, weniger Drogen und vor allem viel
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