Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Fotos: Thilo Mischke, Reuters, mauritius images, AFP, Getty Images, dpa


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hilft, anpackt und dabei schweigt. Jemand, der angerufen wird,
um bei Umzügen mitzuhelfen. In einem anderen Land wäre er
vermutlich ein beliebter Freund, hier ist er ein Mörder.

Gewalt erzeugt Gegengewalt
„Ich habe Schlechtes getan.“ Dass er diese moralische Einord-
nung überhaupt treffen kann, liegt an seiner Zeit im Gefäng-
nis. Dort habe er zu Gott gefunden. „Leben ist hier nichts wert,
Menschen werden für 50 Cent getötet“, sagt er und faltet seine
Hände im Schoß, macht seinen Körper klein, als wolle er in sei-
ner Matratze verschwinden. „Und deswegen ist es so einfach,
Menschen zu töten, es gehört zum Alltag dazu.“
Es gehört hier so sehr zum Alltag, dass Töten nichts Unmo-
ralisches mehr hat, nichts Abschreckendes. Mord ist hier ein
Karriereweg. Im Grunde der einzige Weg. 70 000 Menschen
gehören kriminellen Organisationen an: Schutzgeld, Korruption
und politische Manipulation sind ein zentrales Geschäftsfeld.
„Was sollte ich denn tun?“, sagt Francesco. „In meinem
Viertel gab es keine andere Option.“ Er meint damit die feh-
lende schulische Ausbildung und diesen Gruppenzwang, die
verlockende Möglichkeit, einfach mitzumachen. Mitmachen
heißt: an Ecken stehen, die Polizei beobachten, dann ein Auf-
nahmeritual, und dann ein Mord. Der Beweis der Loyalität.
Sozialdarwinismus trifft auf Kriminalität: Survival
of the Fittest, mehr nicht.
Man wächst hinein, man gewöhnt sich daran.
An das ständige Grauen vor der Haustür, vor
dem morgendlichen Kaffee. Darin liegt die wahre
Tragik, darin liegt die Lehre aus El Salvador.
In den vergangenen zwei Jahren dachte die
halbe Welt neu über den Wert von Leben nach.
Der Ethikrat war gefragter denn je und diskutierte
in Abendtalkshows darüber, wo die Freiheit des
einen endet und das Recht auf Unversehrtheit
beginnt. Während alles in Wahrheit gleichgülti-
ger wurde. Auch an die Bilder aus Bergamo hatte
man sich schnell gewöhnt. So wie später an die
TikTok-Videos aus bombardierten Häusern in
Kiew. Alles wird in der Wiederholung irgendwann
banal, nur ein weiterer Talking Point. Das Ende
der Menschlichkeit liegt im Schulterzucken der
Welt, in der Abnutzung.
„Bukele vernachlässigt die wichtigste Ressour-
ce, die dieses Land hat“, sagt der Pfarrer, der das Haus in San
Salvador organisiert. „Er vernachlässigt die Menschen.“ Des-
halb kann das Land El Salvador gar keine Perspektive haben.
Eben das ist eine Formel, die von Russland bis zur westlichen
Küste Südamerikas gilt.
Der Geistliche will nicht fotografiert werden oder seinen
Namen sagen. Er war selbst mal Mitglied einer Gang. Er spricht
von Bürgerkrieg und davon, dass sich die Geschichte stets wie-
derholt. Dabei trägt er die Erschöpfung eines Mannes in der
Stimme, der nie im Frieden gelebt hat. Weil es nie Frieden gab.
„Wollt ihr mit uns Mittag essen?“, fragt der Einarmige und
reicht einen Teller mit Reis und Hühnchen herüber. Barrio18-
Mitglieder essen mit MS13-Mitgliedern, manchmal wird ge -
lacht. Manchmal geschwiegen. Wären sie nicht in diesem Haus,
müssten sie sich töten. Sie würden sich quälen, bis einer stirbt.
So funktioniert El Salvador. So funktioniert auch Präsident
Bukele: quälen, bis sich niemand mehr wehren kann. Er wollte
alles besser machen, wurde aber zu dem, was er bekämpfen
wollte: einem Gewalttäter. Gewalt erzeugt Gegengewalt. n

mehr wirtschaftlichen Erfolg. Über die Hälfte der Bevölkerung
hatte für den ehemaligen Werber und PR-Fachmann gestimmt,
für den Schönling, der Korruption und politisches Versagen
verhindern wollte. Eine unmögliche Aufgabe. 2018 hatte das
kleine Land El Salvador eine der höchsten Mordraten der Welt.
Anfänglich sah es noch gut aus: Die Opfer von Gewalt wur-
den weniger, die Wirtschaft erholte sich. Mit der Einführung
von Bitcoin als offiziellem Zahlungsmittel wurde El Salvador
als Pionier wahrgenommen. Immerhin war es das erste Land der
Welt, das diesen umstrittenen Schritt wagte. Obwohl Finanz-
experten davon abgeraten hatten. Die Kryptowährung sei zu
volatil, zu kriminell, zu unberechenbar. Bukele war das egal.
El Salvador war das erste Mal seit langer Zeit wegen etwas
anderem als Tod und Chaos im Gespräch. Ein paar mehr Tou-
risten bereisten das Land, um zu surfen und frittierte Hühn-
chen zu kaufen. El Salvador sollte aufsteigen, ernst genommen
werden. Es schien für einen Moment, als hätte der 40-jährige
Bukele alles richtig gemacht.
Bis zum 28. März 2022. Bis zu Mordwellen und Notstands-
gesetzen, bis sich die Regierung in all ihrer Brutalität zeigte.
Der einstige Hoffnungsträger Bukele hatte sich während der
Corona-Pandemie verändert. Er gewöhnte sich an die Kontrolle,
die er mit seinen militärisch durchgesetzten Ausgangssperren
über das Volk ausübte. Der demokratisch gewähl-
te Präsident wurde zum Autokraten. War es der
Rausch der Macht, der ihn seine Mission ver -
gessen ließ? Oder zeigte er unter dem Vorwand
der Virusbekämpfung sein wahres Gesicht? So wie
es in mehreren Ländern der Fall war. Die Auto-
kraten sind auf dem Vormarsch.

Was kam zuerst? Armut oder Gewalt?
Wenn sich Politiker oder Richter beschwerten,
verloren sie ihre Posten. Auf Geheiß von Bukele.
Gesetze wurden durchgewunken, die den Macht-
anspruch des Präsidenten sicherten.
Und das ohnehin leidgeprüfte Volk, das Bürger-
krieg, Militärdiktatur, Unterdrückung schon hinter
sich hat, wurde unruhig. Es gab Demonstrationen.
Auch gegen Bitcoin. Bukele brauchte einen neuen
Feind, das Virus allein reichte nicht. Nun waren
es die Gangs. Sie seien an allem schuld, an der
Verzweiflung im Land, der Armut. Es ist eine sehr
einfache Logik, die natürlich El Salvadors Geschichte ignoriert.
Und die Tatsache, dass es die Gangs nur deshalb gibt, weil das
Land so arm ist. Was kam zuerst? Armut oder Gewalt? Es gibt
dort kaum eine Perspektive, außer Mord.
„Er ist ein Diktator“, sagt Francesco über den Präsidenten.
Und führt dabei durch das Ganghaus, zeigt sein Zimmer. Sechs
Quadratmeter Freiheit, die er sich mit vier anderen Männern
teilt. Ein Doppelstockbett, T-Shirts und Handtücher als Vorhang.
„Alles ist besser als das Gefängnis“, sagt er. Und beschreibt die
dortigen Zustände: Zigtausende Menschen säßen gerade ein,
würden wie Vieh zusammengetrieben, geschlagen.
Auch Francesco ist tätowiert, bis hoch zum Hals. Aber er ver-
steckt die Symbole seiner Gang, es ist ihm unangenehm. Worauf
er einst so stolz war, ist heute ein tödliches Stigma. Er dürfe hier
das Haus nicht verlassen, besonders jetzt, im Lockdown, er kann
seine Frau nicht sehen, seine Tochter auch nicht.
Während er spricht, verändert sich sein Gesicht. Er beginnt
zu weinen. Francesco ist ein zarter Mensch mit freundlichem
Gesicht. Er hat die rauen Hände eines Mannes, der immer mit-

Reporter auf Reisen Thilo
Mischke verbrachte in El Salva-
dor Zeit mit Gangmitgliedern

FOCUS 18/2022
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