Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

Rider auf Zeit
FOCUS-Reporter Maximilian
Krones arbeitete knapp einen
Monat für Lieferando. Im
Schnitt verdiente er inklusive
Trinkgeld etwa 11,50 Euro
in der Stunde

50 FOCUS 18/2022

D


ie erste Schicht ist die
schlimmste. Ein Sonntag, An-
fang Februar in Berlin-Mitte.
Es regnet und stürmt. Ich tre-
te auf meinem Fahrrad gegen
den Wind, spüre, wie das Was-
ser aus dem Sattel durch meine Hose
drückt, langsam verliere ich das Gefühl
für meine Zehen. Außer mir ist niemand
auf der Straße, sogar die Autofahrer lie-
gen jetzt auf dem Sofa und warten auf ihr
Essen. Sie warten auf mich.
Normalerweise liege ich
am Sonntagnachmittag selbst
hungrig auf dem Sofa. Jetzt
bin ich es, der tropfend im
Treppenhaus steht und die
dampfende Papiertüte über
die Türschwelle reicht. Dan-
ke – Tschüs, Tür zu, Handy
raus, weiter geht’s.
Ich bin Kurierfahrer auf
Zeit. Für knapp einen Monat
tauche ich ein in eine Arbei-
terklasse, die es zwar eigent-
lich seit Jahrzehnten gibt,
aber von der Pandemie in
ganz andere Dimensionen
katapultiert wurde. Das Lie-
ferbusiness boomt. Restau-
rants lassen liefern, Super-
märkte liefern, und selbst
Apotheken haben sich in-
zwischen dem gnadenlosen
Minutentakt unterworfen, in
dem die Kuriere durch die
Häuserschluchten zu ihren
Kunden hetzen.

Wachstumsschmerzen
Momentan wirkt es so, als
wäre das eigene Wachstum
das Einzige, was den Platt-
formen wie Lieferando, Go-
rillas oder Flink gefährlich
werden könnte. In den ver-
gangenen zwei Jahren hat
sich allein die Zahl der Lie-
ferando-Rider von 5000 auf
10 000 verdoppelt. Und im-
mer wieder gibt es Berichte über schlechte
Arbeitsbedingungen, immer wieder strei-
ken die Rider, wie die Kuriere sich selbst
nennen. Zu hoher Zeitdruck, zu wenig
betriebliche Mitbestimmung und unzu-
reichende Ausstattung sind ihre häu-
figsten Vorwürfe. Auch bei Lieferando
ist die Fluktuation sehr hoch, sind die
Bedingungen hart. Wie ist es also, für sie

zu arbeiten? Und warum ausgerechnet
Lieferando?
In Städten wie Berlin ist Rider nicht
gleich Rider. Lebensmittellieferdienste wie
Flink oder Gorillas arbeiten mit Warehou-
ses. Die Rider haben ein festes Lieferge-
biet, das mit dem E-Bike in zehn Minuten
abdeckbar sein soll, und im Winter können
sie sich in den Lagerräumen aufwärmen,
wenn gerade kein Auftrag reinkommt. Ihre
Fahrräder stellt der Arbeitgeber, und ihr

Stundenlohn und die Bonusmöglichkeiten
sind vergleichsweise besser. Deswegen
ist der Job immer noch kein Zuckerschle-
cken, aber es geht schlimmer. Zum Bei-
spiel bei Lieferando oder Wolt.
Wenn man bis vor Kurzem nur in Teilzeit
für Lieferando arbeitete – was immer noch
nicht die Regel ist –, musste man dort meis-
tens mit dem eigenen Fahrrad ausliefern.

Es gibt keine unterteilten Liefergebiete,
sondern die Rider müssen in ganz Berlin
ausfahren. Viele machen den Job nur für
wenige Monate und kündigen dann. Sie
sind Studenten oder leben erst seit Kurzem
in Deutschland. Man braucht keinen Füh-
rerschein, kaum Deutschkenntnisse und
keinen Lebenslauf, um Rider zu werden.
Davon profitieren auch die Plattformen.
Wessen Visum vom Job abhängt, der über-
legt sich zweimal, ob er sich krankmeldet.
Das Bewerbungsverfahren
bei Lieferando ist einfach.
48 Stunden nachdem ich
einen Online-Fragebogen
ausgefüllt habe, habe ich
meinen Vertrag als Mini-
jobber vorliegen. Pro Stunde
gibt es 11 Euro, dazu kommt
eine Kilometerpauschale
von 14 Cent pro gefahre-
nem Kilometer und neuer-
dings noch mal 10 Cent pro
Stunde für die Nutzung des
Privathandys. Ab der 25. Lie-
ferung zahlt Lieferando 25
Cent Bonus. So sollen mit
Trinkgeld insgesamt bis zu
18 Euro pro Stunde drin sein,
realistisch sind eher 14 Euro.
Ich unterschreibe den Ver-
trag und gehöre damit offi-
ziell zur Gig-Economy.
Der Begriff stammt aus
den späten 2000er Jahren
und romantisiert prekäre
Arbeitsbedingungen: Gig
bedeutet Auftritt und spielt
auf das Leben von Musikern
an, die von Show zu Show
leben. Die Arbeiter der Gig-
Economy sind in Wirklich-
keit aber meistens keine
aufstrebenden Stars, son-
dern fahren Uber-Taxis, bie-
ten Handwerksdienste auf
Plattformen wie „MyHam-
mer“ an oder liefern Essen
aus. Oft zu günstigeren Kon-
ditionen als herkömmliche
Dienstleister, meistens für weniger Lohn
und schlechtere Sozialleistungen. Es
spricht für sich, dass die Lieferbranche
in dem Ruf steht, sich Gewerkschaften
und Betriebsräte so lange wie möglich
vom Hals zu halten.
Ich hatte schon viele Nebenjobs. Die
meisten waren unschön und monoton. Ich
habe CNC-Fräsen bestückt, Stahlrohre

Die einen lassen liefern – die anderen müssen raus und gehen ins Risiko

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