Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
LIEFERGESCHÄFT

Prozent beträgt der Frauenanteil ungefähr unter den Ridern

10


Lieferando
Aktienkurs in Euro

100

80

60

40

20
9/2016 2018 2019 2020 2021 4/2022
Corona-Booster Die „Just Eat Takeaway“-Aktie ging während der
Pandemie durch die Decke. Der Kurs hat sich seither deutlich korrigiert

40004000
Gramm wiegt ein Lieferruck-
sack, wenn er leer ist. Angeblich
werden sie gerne geklaut

FOCUS 18/2022 51


mit Kränen durch Werkshallen gesteu-
ert oder an einer hydraulischen Presse
Metallfedern gebogen. Was diese Jobs
gemein hatten: wenig Verantwortung.
Die Gig-Economy kehrt dieses Prinzip
um. Sie kennt die Gesetze, die einst den
Manchester-Kapitalismus zügelten, und
umgeht sie, indem sie so viel Verantwor-
tung wie möglich an die Arbeiter gibt. Im
Falle der Pandemie führte sie sogar zu
einer offensichtlichen gesellschaftlichen
Spaltung: Die einen bleiben drin und
lassen liefern, die anderen müssen raus
und nehmen das Risiko auf sich.
Den sichtbarsten Kampf um Marktan-
teile in diesem Niedriglohn-
sektor liefern sich die Lie-
ferdienste und ihre Kuriere.
Allein Just Eat Takeaway,
der niederländische Mut-
terkonzern von Lieferando,
ist weltweit in 25 Ländern
aktiv und setzte 2021 mehr
als 28 Milliarden Euro um.
Deutschland ist mit 3,2 Mil-
liarden Euro der wichtigste
Markt. Beinahe 50 Millionen
Bestellungen gingen hier im
letzten Jahr auf der Platt-
form ein. Diese werden dann
gegen eine Provision von 13
Prozent an die Restaurants
vermittelt, zubereitet und
Ridern wie mir übergeben.
Bevor ich meine erste Lie-
ferung ausfahren darf, muss
ich ein Onboarding-Seminar
besuchen. Gemeinsam mit
etwa 15 anderen künftigen
Ridern werde ich per Video-
call angelernt. Die meisten
meiner künftigen Arbeitskol-
legen sprechen nur gebro-
chen Deutsch. Viele kommen
aus Syrien, einer erzählt, dass
er erst seit zwei Monaten in
Deutschland lebt, ein ande-
rer fragt, ob wir auch arbeiten
müssen, wenn es regnet. „Ja, auch dann
bestellen Leute etwas zu essen“, antwortet
die Vorarbeiterin.
Die junge Frau erklärt uns zuerst das
wichtigste Werkzeug des Riders: die
Scoober-App. Sie bestimmt den Arbeits-
alltag jedes Lieferando-Fahrers. Darüber
werden Schichten geplant, Urlaub einge-
reicht und die Bestellungen an die Rider
verteilt. „Ganz wichtig: Ihr müsst jede
Bestellung annehmen“, sagt die Frau,
„deswegen seht ihr die Lieferadresse
auch erst, wenn ihr ‚OK‘ geklickt habt.“
Was wie eine Beiläufigkeit klingt, wird
sich später wie Lottospielen anfühlen. Nur,


im Fahrerlager ab. Ich bekomme unter
anderem eine Winterjacke, T-Shirts, eine
Regenhose, den Rucksack, Handschuhe,
Masken, Schnelltests und Reflektoren. Der
Mitarbeiter im Hub, wie das Hauptquar-
tier heißt, überreicht mir alles, nachdem er
kontrolliert hat, ob ich schon für Schichten
eingetragen bin. Niemand überprüft mein
Wissen aus der Sicherheitsunterweisung.
Ich ziehe mich um und fahre los. Das
Rad steuere ich meistens einhändig durch
Berlin, in der anderen Hand mein Handy
mit der Wegbeschreibung. Sicher nicht
ganz legal, aber anders geht es nicht.
Bei diesem Regen würde mir auch keine
Handyhalterung am Lenkrad helfen.

Zickzackkurs
Meine erste Lieferung führt mich zu
einem McDonald’s-Restaurant. Drinnen
gleiche ich den Namen in meiner App
mit dem Kassenbon ab und fahre zu einer
Adresse, an der mir der Mann mit dem
Namen vom Kassenbon in Unterhose die
Tür aufmacht. Trinkgeld gibt es keins.
Ich fahre Döner, Chickenwings und
vegane Burger durch das Sauwetter. Die
Regenhose ist eher eine Spritzwasser-
hose, deswegen bin ich auch untenrum
nass. Zum Ende meiner Schicht bestellt
eine junge Frau einmal Burger quer
durch die Stadt. Mein Heimweg dauert
70 Minuten, unbezahlt. Trinkgeld an die-
sem Tag: zwei Euro. Die nächsten drei
Tage huste ich und habe Muskelkater.
Rider ist ein Knochenjob. Das liegt auch
an der App. Denn wo immer man mit
Menschen zusammenarbeitet, gibt es
Verschnaufpausen. Auch der vermeint-
lich unbarmherzigste Chef kennt Mitleid.
An einem regnerischen Sonntagnachmit-
tag ist die Scoober-App der Endgegner
im Arbeitskampf. Kaum drückt man auf
„Bestellung ausgeliefert“, erscheint der
nächste Job – mit Zeitvorgabe.
Das kann gefährlich werden. Das Maga-
zin der „Süddeutschen Zeitung“ veröffent-
lichte kürzlich Zahlen: Im Jahr 2021 hat
die Takeaway Express GmbH, bei der die
Lieferando-Fahrer angestellt sind, 1417
Arbeitsunfälle an die Berufsgenossen-
schaft Verkehr gemeldet. In etwa 70 Pro-
zent aller Fälle waren die Betroffenen über
drei Tage krankgeschrieben. Es liegt nahe,
dass darunter viele Verkehrsunfälle von
Ridern waren.
Während der Arbeit gibt es nur den Rider
und die App. Bei Problemen kann man
sich über Scoober an Vorgesetzte wenden,
aber zu Gesicht bekommt man eigentlich
nie jemanden, der einen anleiten könnte.
Selbst mit Kollegen kann man sich nur sel-
ten austauschen: Es fehlt die Zeit, die

dass eben kein Jackpot wartet, sondern ein
unberechenbarer Heimweg und Muskel-
kater. Jeder Fahrer liefert in ganz Berlin
aus. Das kann pro Lieferung auch mal eine
Stunde Fahrt bedeuten – in eine Richtung.
In einer Sicherheitsunterweisung wird
uns etwa eine Stunde lang erklärt, auf
welchem Fahrstreifen wir fahren sollen,
wie man sich gegen Hunde schützt und
wie ein verkehrssicheres Fahrrad aussieht.
„Wenn ihr euer Equipment abholt, werdet
ihr getestet, dann müsst ihr Fragen dazu
beantworten“, sagt die Frau.
Eine halbe Stunde vor dem Beginn mei-
ner ersten Schicht hole ich das Material

Milliarden Euro hat
Lieferando im Jahr
2021 in Deutschland
umgesetzt

10 000 3,2
Kuriere arbeiten in Deutschland
für den Lieferando-Mutterkonzern
Just Eat Takeaway. Die meisten als
Minijobber

Hier bestellt Deutschland


Millionen Mal haben die Deutschen
50 im letzten Jahr bei Lieferando bestellt

Quelle: onvista
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