Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

WIRTSCHAFT LIEFERGESCHÄFT


„Ich bin
Teamleiter.
Doch darüber
gibt es Streit
vor Gericht“

Semih Yalcin, Betriebs-
ratschef bei Lieferando

58,562 MM

Foto: dpa

52 FOCUS 18/2022


Sprache, und es gibt keine
Sammelpunkte. Lieferando-
Rider sind Lone-Rider. Auch
deshalb sind Betriebsräte
und Gewerkschaften hier
weniger und später präsent
als bei Gorillas mit seinen
Lagern.
Semih Yalcin ist ein Rider-
Urgestein. Seit 2016 liefert er
Essen aus. Damals noch für
Foodora, bevor die Firma von
Just Eat Takeaway gekauft
wurde. Yalcin war bei Foo-
dora schon Betriebsrat und
ist heute der Vorsitzende des
Gesamtbetriebsrates von
Lieferando. Eigentlich sei
er Teamleiter, sagt er, doch
Lieferando sieht das anders. „Mein Arbeit-
geber streitet sich deswegen lieber vor
Gericht“, und Yalcin tritt weiter in die
Pedale, statt zusätzlich zu koordinieren.
Aber das ist nicht seine einzige Baustelle.
Aktuell geht es um sehr viel für die Beleg-
schaft. Denn nach langem Hin und Her
bot Lieferando an, den Fahrern Dienst-
räder und sogar Handys zu stellen. Der
Betriebsrat muss dem noch zustimmen,
und ob er das tut, ist fraglich. Yalcin hat
Datenschutzbedenken.
Die Scoober-App steht schon länger im
Verdacht, nicht nur ein gnadenloser Auf-
tragsvermittler zu sein, sondern die Mit-
arbeiter auf Schritt und Tritt zu verfolgen.
Vergangenes Jahr wurde bekannt, dass
Scoober den Standort seiner Fahrer wohl
alle 15 bis 20 Sekunden ermittelt. Und
was für eine Dienstapp gilt, muss für ein
Diensthandy ja wohl doppelt
gelten. Also sind Yalcin und
sein Betriebsrat skeptisch.
Lieferando distanziert sich
von den Vorwürfen. „Die Da-
ten der Scoober-App werden
nicht für unzulässige Leis-
tungs- oder Verhaltenskon-
trollen genutzt“, teilt das Un-
ternehmen auf Anfrage mit.
Der Fall liegt aktuell noch bei
der niederländischen Daten-
schutzbehörde.
Meine zweite Schicht ver-
läuft entspannter. Das liegt
zum einen daran, dass sie
nur 90 Minuten dauert, zum
anderen aber, dass Dienstag
ist und die Menschen weni-
ger bestellen. Ich fahre drei
Lieferungen durch den Nie-


puttmachen will, muss man
mit eigenem Geld in Vorleis-
tung gehen.
Schicht drei ist zugleich
meine längste: fünf Stunden
an einem Sonntagmittag.
Primetime im Lieferbusiness.
Die Sonne scheint, die erste
Bestellung kommt per Push-
nachricht. Ich darf zuerst
sechs Kilometer zu einem
Spar-Kiosk fahren und einen
zehn Kilo schweren Einkauf
vier Kilometer weiter bei
einer Frau in Quarantäne
abgeben. Das Ganze dauert
über eine Stunde, gibt aber
immerhin zwei Euro Trink-
geld. Was auffällt: Je länger
eine Schicht dauert, desto weiter werden
die Wege, die mir zugeteilt werden.
Von nun an verläuft jede Schicht gleich.
Lange Arbeitszeiten, längere Wege. Am
Wochenende enge Taktung, unter der
Woche wartet man auch mal eine halbe
Stunde. Als das Sturmtief Zeynep über
Berlin rauscht, bekomme ich wie alle
anderen Fahrrad-Rider bei Lieferando
kurzfristig bezahlten Urlaub.

Fahrerverantwortung
Nach drei Wochen Ausliefern trete ich mei-
ne letzte Schicht an, es ist der Sicherheits-
check meines Fahrrads. Etwa eine Minu-
te schaut eine Mitarbeiterin des mobilen
Fahrradservices Yeply mein Rad an, checkt
die Bremsen, ruckelt an der Kette. „Die
ist scheiße“, sagt sie und verabschiedet
mich. Das war’s. Warum Lieferando den
Sicherheitscheck nicht vor Beginn der ers-
ten Schicht ansetzt, ist unklar. „Fahrer,
die gegen eine lohnergänzende Kilome-
terpauschale ihr eigenes Fahrrad nutzen,
sind verpflichtet, ihr Fahrrad verkehrssi-
cher zu halten“, teilt Lieferando auf Nach-
frage mit. Auf meiner Gehaltsabrechnung
ist keine Kilometerpauschale aufgelistet.
Eine Entschädigung für die Nutzung mei-
nes Privathandys fehlt ebenfalls.
Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, wird in
Berlin wieder demonstriert. Dieses Jahr
haben sich auch Lieferando-Fahrer ange-
kündigt, die sich dem „klassenkämpferi-
schen Block“ der Demonstration anschlie-
ßen wollen. Zur gleichen Zeit werden
ihre Kollegen arbeiten und ausfahren. Ist
schließlich Sonntag, und irgendwer hat
immer Hunger.n

MITARBEIT: CATHRIN KELLER

An einem regnerischen Sonntag ist die Scoober-App der Endgegner im Arbeitskampf


selregen und lerne den zweiten Feind des
Riders kennen. Das Warten.
Ich irre zuerst langsam und ziellos durch
die Gegend, bis ich unter dem Vorsprung
eines Balkons Schutz suche und dabei
ständig meine Scoober-App aktualisiere.
„Kurze Verschnaufpause“ steht da und
dahinter, wie eine Drohung, „die nächste
Bestellung kommt gleich“.
Vor einem koreanischen Grill in Neu-
kölln komme ich mit Kamran* ins Ge-
spräch. Der kleine Mann um die dreißig
kommt ursprünglich aus Pakistan und stu-
diert in Berlin. Gerade übernimmt er die
Lieferando-Schichten für einen Freund,
der momentan nicht in Deutschland sein
kann. „Die Arbeit ist ganz okay“, sagt
Kamran, „aber Vollzeit und für immer
könnte ich mir das nicht vorstellen“. Dann
schaut er mein Fahrrad an und muss
lachen: „Damit lieferst du
aus?“, er zeigt auf sein E-Bike
und grinst. Kein Wunder,
dass ich nach meinen Schich-
ten so kaputt bin. Dann
ruft der Grillmeister „Lie-
ferando“, Kamran holt seine
Bestellung und düst davon.
Die meisten Rider in Berlin
fahren E-Bikes, die sie vom
niederländischen Radver-
leiher Swapfiets leasen. Das
kostet regulär etwa 60 Euro im
Monat. Geld, das man mit
der Kilometerpauschale erst
mal wieder reinfahren muss.
Bei 14 Cent wären das monat-
lich etwa 430 Kilometer. Auch
hier wird deutlich, wie die Gig -
Economy funktioniert: Wenn
man sich körperlich nicht ka-

Arbeitskampf Lieferando-Beschäftigte demonstrieren vor dem Hauptsitz des
Lieferdienstes in Berlin. Zentrale Forderung: bessere Löhne, fairere Schichten


  • Name von der Redaktion geändert


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