Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Fotos: Joe Skipper/REUTERS, Markus C. Hurek

58 FOCUS 18/2022

Die
Kommentatorin
war Social-Media-
Managerin und
schreibt seit 2017
über Techkonzerne

Der hat einen Vogel
Lässt Musk – wie auf
dem „Time“-Cover –
die Twitterbirds frei?

E


s hätte nicht besser in
diese absurde Woche
passen können. Da teilt
der reichste Mensch
der Welt einen Witz, in
dem er den kanadischen Pre-
mier mit Adolf Hitler vergleicht
–auf einer Plattform, die er
gerade für 44 Milliarden Dollar
kaufen will. Jener Plattform,
der er vorwirft, die Meinungs-
freiheit zu beschneiden. Und
dann kommt diese Nachricht:
Der Vorstand hat zugestimmt.
Elon Musk darf den Kurznach-
richtendienst Twitter tatsäch-
lich übernehmen.
Zwar ist er nicht der erste
Milliardär, der einen Medien-
konzern aufkauft. Jeff Bezos übernahm die „Washington
Post“, Salesforce-Gründer Marc Benioff
das Nachrichtenmagazin „Time“. Aller-
dings mischen sie sich nicht ein. Musk
hingegen will jenen Dienst umgestalten,
den er selbst als „Marktplatz der Welt-
öffentlichkeit“ bezeichnet. Und er tut das
nach eigenen Angaben nicht, um daran
zu verdienen, nein. Er tut das, weil er
glaubt, so die Meinungsfreiheit zu retten.
Ja, Twitter ist ein schlechtes Business.
Und klar, Musk könnte das ändern. Doch
das ist unwahrscheinlich. Er hat keine
Strategie. Er lässt schon jetzt auf Twitter
über Produktänderungen abstimmen, die
ihm gerade so einfallen. Ein soziales Netz-
werk zu leiten ist aber komplex und kann dramatische Kon-
sequenzen haben. Mark Zuckerberg saß in den vergangenen
Jahren oft schwitzend vor dem US-Kongress. Musk
hat keine Ahnung von der Materie. Das ahnt auch
der Markt. Seit bekannt wurde, dass Musk der größte
Anteilseigner ist, schwankt der Aktienkurs und sank
nach der Übernahmenachricht um sechs Prozent. Sein
Kauf wirkt wie eine Kurzschlussreaktion, geboren aus
Selbstüberschätzung und der Wut auf die amerikani-
sche Finanzaufsicht. Seit seinem legendären Tweet, er
wolle Tesla von der Börse nehmen, der sich als Unsinn
herausstellte, muss er seine Tweets einem Anwalt
vorlegen, bevor er veröffentlicht. Das kann sich nach
Gängelung anfühlen, schützt aber den Markt.
Genau das versteht er nicht. Musk ist ultralibertär.
Und seine Idee von Meinungsfreiheit ist in Verbindung

mit sozialen Medien hoch-
problematisch. Er will Twitter
deregulieren. Die Konsequenz?
Auch Terrorgruppen dürften
den Dienst wieder nutzen. Und
Trump, der verbannt wurde,
weil er zuletzt sogar zu Gewalt
bis hin zum Staatsstreich ange-
stachelt hatte, erhielte sein
Spielzeug zurück. Nach Trumps
Twitter-Sperre sank der Anteil von Desinformation dramatisch.
Natürlich haben Politiker und Politikerinnen das Recht,
öffentlich zu lügen oder sich anstößig zu äußern. Auch das ist
Redefreiheit. Und die hat ihnen nie jemand abgesprochen,
auch nicht der gefeuerte Twitter-Gründer Jack Dorsey. Aber
sie haben eben nicht das konstitutionell gesicherte Recht, sein
algorithmisch verstärktes Megafon, Twitter, dafür zu nutzen.
Soziale Netzwerke brauchen Moderation, müssen gegen Hass-
rede vorgehen. Denn in einigen Ländern sind sie mittlerweile
die relevanteste Nachrichtenquelle. Wer glaubt, diese Ängste
seien überzogen, denke an den Mob, der die Treppen des
Reichstags stürmte und in Washington das Kapitol.
Lügen verbreiten sich auf Social Media sechsmal weiter als
die Wahrheit. Geht man nur von Twitter aus, könnte man glau-
ben, das sei nicht dramatisch. Weltweit nutzen 217 Millionen
Menschen die Plattform, nur 1,4 Millionen in Deutschland.
Aber: Vor allem Presse und Politiktreibende tummeln sich hier.
Es ist ein Leit-, ein Multiplikationsmedium. Dort werden Mei-
nungen geformt, die es in alle Gremien schaffen.
Insofern war es gut, dass Twitters Geschäftsführung
wenigstens dem Aufsichtsrat gegenüber Rechenschaft
ablegen musste. Nimmt Musk die Firma von der Börse,
kann er machen, was er will. Der Tesla-Chef ist ein
Beispiel dafür, was Macht anrichten kann. Er mani -
puliert Märkte, beschimpft Institutionen, spielt nach
seinen Regeln. Wenn Menschen zu viel Macht bekom-
men, gehen sie Risiken ein, die sie nicht überblicken
können. Sogar die finanzielle Sicherheit seiner erfolg-
reichsten Firma, Tesla, gefährdet er mit dem Twitter-
Deal (allein die Zinsen und Gebühren werden jährlich
eine Milliarde Dollar fressen). Am Ende könnte es sein
eigener Größenwahn sein, der ihn reguliert. n

Twitters bekanntester Troll heißt Elon Musk. 80 Millionen folgen dem Tesla-
Chef auf der Plattform. Seine Tweets sind skurril bis strafrechtlich relevant

Nach dreiwöchigem Ringen ist es offiziell: Elon Musk darf den Kurznachrichtendienst


Twitter kaufen. Das kann nichts Gutes bedeuten, meint unsere Autorin


Gefährlicher Größenwahn


Von Corinna Baier
Ressortleiterin bei FOCUS

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