Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
FITNESS

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den nervösen Trainer. Wie er bei geschlos-
senen Augen mit seinen Fingerkuppen
eintauchte in die Waden oder Oberschen-
kel der Spieler. Wie er sich in ihre Kör-
per vortastete und einen eindringlichen,
wortlosen Dialog führte mit Sehnen und
Fasern. Wie er be-griff und be-handelte.
„Meine Hände sind das entscheidende
Instrumentarium“, sagt Müller-Wohlfahrt.
Sie können die Haut beurteilen, das Binde-
gewebe, Knötchen in den Faszien, die dar-
unter liegende Muskulatur. „Habe ich ein
Muskelbündel gefunden, das durch eine
höhere Spannung abweicht, weiß ich: In
diesem Bündel liegt die Verletzung. Dann
muss ich Millimeter für Millimeter ab-
gleiten, mich ganz hineinvertiefen in die
anatomischen Gegebenheiten.“ Seine
2018 erschienene Autobiografie nannte
er „Mit den Händen sehen“.
Ein blinder Glaube an die Kernspin-
tomografie, an das MRT, habe das Pal-
pieren verdrängt, sagt der Meister des
Tastens. Viele Kollegen hätten Berüh-
rungsängste. Verantwortung werde an die
Maschine delegiert, obwohl sie bei Mus-
kelverletzungen in mehr als der Hälfte der
Fälle zu Fehldiagnosen führe. Die Sport-
medizin bewege sich in eine falsche Rich-
tung: „Wir müssen die Patienten anfassen,
statt sie in die Röhre zu schieben.“
Groß, kräftig und akkurat gepflegt sind
Müller-Wohlfahrts Hände. Rechts trägt er
den Ring einer Ehe, die vor 48 Jahren
aus einem Müller einen Müller-Wohlfahrt
machte. Einige Fingerspitzen sind leicht


gekrümmt von einer Arthrose. Aufgear-
beitet und abgenutzt seien sie von der
schweren Arbeit des tiefen Drückens und
Fühlens. Doch sie funktionieren, zuverläs-
sig und sensibel, ohne Schmerzen.
Die Erfahrung dieser Hände, die mehr
als 40 000 Verletzungen von Profisport-
lern erspürt haben, will nun ein Projekt
der Technischen Universität München
nutzen. Künstliche Intelligenz soll eine
Verbindung schaffen zwischen den Auf-
nahmen eines MRT und den Diagnosen

des einstigen Bayern-Docs. Der Compu-
ter lernt zu erfassen, was zwar geschulte
Finger, aber nicht die Augen eines Radio-
logen wahrnehmen. Tastsinn verwandelt
sich in Algorithmen. „Wir sind bereits
bei 90 Prozent Sicherheit“, sagt Müller-
Wohlfahrt.
Eine Verletzung, die auf MRT-Bildern
bislang kaum von anderen Leiden zu
unterscheiden ist, nennt der Orthopäde
„neurogene Muskelverhärtung“. Er hält
sie für eine der häufigsten aller Sport-
verletzungen. Erstmals fiel sie ihm 1987
auf, als der Bayern-Spieler Lothar Mat-
thäus bei einem Training in Bahrain an
die Außenlinie kam und sagte, er könne
nicht mehr weitermachen. Müller-Wohl-
fahrt ertastete einen daumendicken har-
ten Strang im Oberschenkel. Die Fasern
waren so angespannt, dass sie bei weite-
ren Sprints hätten reißen können. Der Arzt
sagte zum späterem Freund seiner Tochter:
„Dein Muskel hat zugemacht.“

Muskeln unter Feuer
Er habe bald herausgefunden, was vor sich
gehe, sagt Müller-Wohlfahrt. Der Mus-
kel werde übersteuert, bombardiert von
Nervenimpulsen und ziehe sich daher
zusammen. Die Ursache liege im Rücken,
etwa im Bereich eines Lendenwirbels
oder des Iliosakralgelenks. Hier müsse
es wieder freie Beweglichkeit geben:
„Wenn das Feuer nachlässt, entspannt
der Muskel wieder.“ Richtig behandelt
könne der Sportler schon nach wenigen
Tagen wieder auf den Platz, und nicht erst
nach Wochen, wenn fälschlicherweise ein
Faserriss diagnostiziert werde.
Cortison, die traditionelle Wunderwaffe
der Orthopädie, lehnt Müller-Wohlfahrt

Jahre lang war Müller-Wohlfahrt
Mannschaftsarzt des FC Bayern. 2015
bis 2017 setzte er aus. Er hatte sich
mit Trainer Pep Guardiola überworfen

Patient und Freund der
Tochter Kicker Lothar
Matthäus war zwei Jahre
lang mit Maren liiert

„Wir müssen die


Patienten anfassen,


statt sie in die Röhre


zu schieben“


Rot und Gold Im Regal stehen Dankesgaben
von Wladimir Klitschko und Usain Bolt

Mähne mit Strähnen „Doc“ und
„Mull“ lauten die Spitznamen.
Drei Müller gab es in der Klasse.
Der Lehrer rief ihn Muller


Stütze für einen Star Dem Tennis-
spieler Boris Becker reiste der Medizi-
ner zu vielen Turnieren hinterher. Hier
die beiden bei der Fußball-EM 2000

Sommermärchen Jubel mit Trainer
Jürgen Klinsmann und Torwartcoach
Andreas Köpke beim Sieg im Spiel
um Platz drei bei der WM 2006

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