SERIE
Fotos: Benjo Arwas/Getty Images, Courtesy of Apple TV+
FOCUS 18/2022 79
angezogen, eine Stylistin hat ihre blon
den Haare frisiert. Privat mag sie es lieber
bequem und „messy“. Der Lockdown hat
sie nicht belastet, sie vergräbt sich ohne
hin am liebsten in ihrem Apartment und
in Arbeit.
Moss liebt ambivalente Rollen. Cha
raktere, die „zwei Seiten“ haben. In dem
achtteiligen Thriller „Shining Girls“, der
Adaption eines Bestsellerromans, ver
körpert sie die junge Zeitungsarchivarin
Kirby, die vor Jahren in Chicago einem
Mordanschlag entgangen ist. Der Täter
wurde nie gefasst. Kirby träumt davon,
ihren Arbeitsplatz in einem düsteren Kel
lerloch gegen das lichte Großraumbüro der
Lokalreporter ein paar Stockwerke höher
einzutauschen. Als eine Tote auftaucht,
die dieselben Tatmerkmale aufweist wie
sie damals, macht sie sich gemeinsam mit
einem verkrachten Journalisten auf die
Jagd nach dem Mörder, der sich als ein
Serienkiller mit metaphysischen Kräften
entpuppt.
Normale Leute in krassen Umständen
Die Charakterdarstellerin, die ein wenig
an Jodie Foster in „Das Schweigen der
Lämmer“ erinnert, agiert hier in Schatten
reichen, dunklen Wohnungen, schummri
gen Bars und fahlen Gängen – eine Welt,
durch die sie sich ebenso glanzlos bewegt,
in farblosen, unförmigen Kleidern, immer
nach innen gekehrt, den Kopf nach unten
gerichtet. Bisweilen irritiert und erschro
cken, mit leichten Rötungen auf dem
scheinbar ungeschminkten Gesicht. Und
dann, wenn sie ein innerer Furor packt,
beißt sie sich auf die Lippen, der Mund
wird bitter, die Miene böse. Ein gezeich
netes Opfer, das zugleich rigoros vorgeht,
um den Täter zur Strecke zu bringen. Die
zwei Seiten einer Figur – einer normalen
Person in außergewöhnlichen Umständen.
„Das Wichtigste an Kirby war für mich,
dass sie eine sehr bodenständige Aus
strahlung hat“, sagt Moss. „Sie hat keine
besonderen oder übersinnlichen Kräfte,
verfügt über kein spezielles Wissen. Sie
ist eine sehr reale Person, die einfach
jene Dinge an sich erfährt, die da um sie
herum passieren.“
Diese Dinge entwickeln sich eben auch
durchaus unwirklich, in einem Zwielicht
von Gegenwart, die im Jahr 1992 spielt,
und der Vergangenheit. Als der Serien
mörder Kirby erstmals als Kind auf der
Haustreppe anspricht, sagt er zu ihr: „Erst
erfreuen wir uns am Glanz, und dann
rauben wir ihn“. Dazu reißt er einer Bie
ne die Flügel aus. Der Titel
„Shining Girls“ bezieht sich
darauf, dass der Killer den
Mädchen, wenn sie im Glanz
ihres Leben stehen, diesen
raubt, indem er sie tötet.
Regisseurin Jane Campion,
die gerade zum zweiten
Mal mit einem Oscar aus ge
zeichnet wurde, sagte ein
mal über Moss und deren
Figur in ihrer Serie „Top of
the Lake“: „Sie hat da immer
eine kleine Lampe ange
schaltet, die auch in größter Dunkelheit
leuchtet.“ Fragt man also Moss, diese
Spezialistin für menschliche Abgrün
de, ob sie diese Lampe auch hier ange
schaltet hat, muss sie erst einmal lachen:
„Das war sehr nett von Jane, aber ich
kann mir doch selbst keine Komplimente
machen.“ Aber sie räumt natürlich auch
ein, dass ihre Heldin auf der Suche nach
dem Licht am Ende des Tunnels ist.
„Klar gibt es diese Analogie. Und na
türlich geht es darum, diesen Glanz
wiederzufinden, dieses Leuchten wieder
anzuschalten“, sagt Moss. „Die Frage ist
nur, lässt es sich genauso wieder her
stellen? Ich denke mal, ohne jetzt zu viel
verraten zu wollen, dass es nicht so sein
wird, wie man es sich erhofft.“
Es ist jedenfalls ein Phänomen, dass
Moss nicht mal die abseitigsten Rollen
an ihre Seele herankommen lässt. Viel
leicht ist es ja wirklich dieses Licht, die
ses kleine Lämpchen. „Ich kann Ihnen
wirklich nicht sagen, warum das bei mir
so ist“, meint sie. „Mir ist auch klar, dass
ein echter Method Actor (also jemand,
der die Rolle gänzlich lebt, Anm. d. Red.)
nur alle fünf Jahre einen Film machen
kann – wie sollte es auch anders gehen,
das ist einfach total anstren
gend, wenn man alles so ver
innerlicht.“ Einmal hat sie
das selbst probiert, bei dem
Film „Her Smell“, in dem
sie eine Punksängerin ver
körperte. „Das hat einen Tag
lang funktioniert, dann hat
es mich gelangweilt“, sagt
sie. „So eine Art Schauspie
ler bin ich einfach nicht.“
Moss stammt aus einer
Musikerfamilie, der Vater
Produzent, die Mutter Jaz
zerin. Sie wuchs in einer Art Hippie
kommune auf, fing als Kind 1990 mit
der Schauspielerei an und feierte 2007
mit „Mad Men“ ihren Durchbruch. Die
Gefahren eines KinderstarAbsturzes
drohten ihr schon deswegen nicht, weil
sie nie berühmt war, betont sie: „Ich habe
viele Jahre keinerlei Glanz vom Ruhm
abbekommen. Und auch dann hat es sich
sehr, sehr langsam entwickelt.“
Resilienz durch Religion?
Ihre Karriere zeichnet also eine Art dop
pelte Resilienz aus: zum einen den eiser
nen Willen, den eigenen Weg zu gehen
und trotz mäßigen Erfolgs nicht aufzu
geben. Zum anderen die unbekümmerte
Robustheit gegenüber Rollenherausfor
derungen, die oftmals eine massive psy
chische Belastung in sich bergen.
Moss’ Eltern waren nicht nur Musiker,
sondern auch Scientologen. Sie wurde
nach den Regeln der Sekte erzogen und
praktiziert sie bis heute. Sie redet nicht
gern darüber. Religion betrachtet sie als
Privatsache. Trotzdem die Frage, ob die
„Tools“ von Scientology, der Werkzeug
kasten der Kirche, wie das Tom Cruise
mal genannt hat, ob das ihre Resilienz
gefördert, ihrer Karriere geholfen habe?
„Nein, das glaube ich nicht“, sagt
Moss. „Ich sehe die Schauspielerei eher
als eine Art Farce, ich habe immer vor
Augen, dass ich in eine Szene reingehe
und dann wieder raus – und damit kann
man auch tiefere Gefühle zulassen. Das
ist eine sehr instinktive Sache, und so hab
ich das schon gemacht, als ich klein war.“
Und dann fügt das multiple Schau
spieltalent noch mit einem Lächeln
hinzu: „Nach ‚Shining Girls‘ würde ich
übrigens nicht mehr nur von zwei Seiten
reden, die mich an einer Figur interes
sieren, sondern von mindestens fünf.
So viele Seiten wie möglich darzustellen,
das ist mein neues Ziel.“ n
„Ich habe
immer vor
Augen, dass
ich aus einer
Rolle wieder
rauskann.
So kann ich
tiefere
Gefühle
zulassen“
Elisabeth Moss
Puzzlespiel Elisabeth Moss jagt als Archivarin Kirby mit
Journalist Dan (Wagner Moura) einen Serienmörder