Focus - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
GESELLSCHAFT

Übersetzung: Benjamin Mildner


FOCUS 18/2022 85

die Situation dort Ende
August aussehen wird.
Trotz der augenschein-
lichen Gefahr einer neuen
Offensive der russischen
Armee auf Kiew und an-
dere Regionen der Zentral-
ukraine, kehren viele Men-
schen in ihre Heimat zu-
rück. Und die Zurückge-
kehrten verlangen, dass
an den Schulen von Schytomyr kein Rus-
sisch mehr unterrichtet werden soll. „Bitte
ersetzt es durch eine andere Fremdspra-
che“, sagen sie. Mittlerweile verbindet
man die russische Sprache nur noch mit
dem Krieg, und die Hal-
tung ihr gegenüber hat
sich verhärtet, ähnlich wie
die Haltung des sowjeti-
schen Volkes gegenüber
der deutschen Sprache
nach dem Zweiten Welt-
krieg. Ich erinnere mich,
wie ich selbst mich gewei-
gert habe, in der Schule
Deutsch zu lernen. 1972
war ich elf Jahre alt und in
der vierten Klasse, als wir
eine Fremdsprache wählen
mussten. Es sollten sich
zwei Gruppen bilden – eine
für Englisch und eine für
Deutsch. Niemand wollte
Deutsch lernen. Und ich
weiß noch, wie ich meinem
Klassenlehrer gesagt habe:
„Ich werde nie Deutsch ler-
nen. Die Deutschen haben
meinen Großvater umge-
bracht!“
1997, im Alter von 36 Jah-
ren, habe ich Deutsch ge -
lernt, aber ich glaube, mei-
ne Haltung der deutschen
Sprache gegenüber hat
sich schon lange zuvor ent-
spannt. Ich befürchte je -
doch, dass der Hass auf die
Sprache und die Kultur un -
seres jetzigen Aggressors
länger anhalten wird. n

ANDREJ KURKOW

Studierenden auch keine
Ahnung, was sie machen
werden, wenn sie irgend-
wann ihr Diplom in den
Händen halten. Und die
Erstsemester wissen nicht,
ob sie ihr Studium je wer-
den abschließen können.
Es gibt keine Garantien
auf die Zukunft – weder
die Zukunft der einzel-
nen Studierenden noch
die des Landes insgesamt.
Es herrscht Wut auf die
Zerstörung der Hoffnun-
gen und Zukunftspläne
und Hass auf diejenigen,
die diese Zerstörung über uns gebracht
haben. Wir können nur mutmaßen, wann
dieser Hass, wie ein heftiger Sturm, wie-
der vorbei sein wird.
Nichtsdestotrotz gibt es bereits Pläne
für das künftige akademische Leben in
der Ukraine. Es gibt einen Kalender, und
diesem zufolge geht der Bildungsprozess
sowohl in Schulen als auch in Universitäten
weiter seinen Gang. Der Kalender sieht
vor, dass um diese Jahreszeit die Eltern
der angehenden Erstklässler ihre Wahl
für eine Grundschule treffen und die Schu-
len ihre Listen zukünftiger Neuzugänge
aufsetzen sollen. Die Schule beginnt am


  1. September, es ist also nicht mehr viel
    Zeit. Doch in diesem Jahr kann in dieser
    Zeit noch so schrecklich viel passieren.


Die verhasste Sprache der Besatzer
Ebenso wie im restlichen Europa bringen
die Eltern in der Ukraine sehr viel ner-
vöse Energie bei der Wahl einer Schule
für ihr Kind auf. Es ist eine anstrengende
Zeit. Aufgrund des Krieges haben jedoch
nur die Eltern mit einem dauerhaften
Wohnsitz im Westen oder Südwesten der
Ukraine den Luxus dieses vorherseh-
baren und relativ überschaubaren Pro-
blems. Die Zahl der Ukrainer, die ins
Ausland gegangen sind, hat bereits die
Marke von vier Millionen überschritten


  • und das sind hauptsächlich Mütter mit
    Kindern. Von den 16 Millionen Binnen-
    flüchtlingen sind mehr als die Hälfte Kin-
    der. Und jetzt müssen die Eltern entschei-
    den, in welchem Dorf, welcher Stadt oder
    sogar welchem Land sie ihre Kinder in
    welche Schule schicken sollen.
    Binnengeflüchtete Familien, die es nach
    Lwiw verschlagen hat, werden es sogar
    noch schwerer haben. Auch wenn Lwiw
    eine große Stadt mit vielen Schulen ist,


wird es einfach nicht genug Plätze für all
die Flüchtlingskinder geben. Vermutlich
wird man irgendwie Plätze für sie fin-
den, aber die Schulklassen werden riesig
sein, und es wird noch schwieriger werden,
auf die individuellen Be-
dürfnisse einzelner Kinder
einzugehen – und das in
einer Zeit, in der die indivi-
duellen Bedürfnisse wahr-
scheinlich ungewöhnlich
komplex sein werden.
Mittlerweile hat die städ-
tische Schulbehörde von
Schytomyr eine Online-
Anmeldung für Erstkläss-
ler eingerichtet. Familien
aus Schytomyr, die zurzeit
über die Westukraine und
Europa verstreut leben,
können so zwar wenigstens
für den September planen,
jedoch sehen sie sich einem
anderen Dilemma gegen-
über. Sollen sie bleiben,
wo sie sind, und ihr Kind
beispielsweise in Ham-
burg auf die Schule schi-
cken, wo niemand Ukrai-
nisch spricht? Oder sollen
sie darauf hoffen, bis Ende
August nach Schytomyr
zurückkehren zu können,
auch wenn noch niemand
sagen kann, wie sicher
es dann sein wird, in die
Ukraine zurückzugehen


  • insbesondere in die Re -
    gion Schytomyr, die unter
    der russischen Aggression
    ganz besonders gelitten
    hat? Es ist quasi unmög-
    lich vorauszuahnen, wie


Angekommen,
aber nicht entkommen
Unterricht für ukrainische
Schüler in München

Kritischer Blick
Kurkow reflektiert in
seinen Romanen die post­
sowjetische Gesellschaft
und das Verhältnis des
Westens zu Russland. Seit
2018 ist er Präsident des
ukrainischen PEN. Zuletzt
erschien von ihm auf
Deutsch der Roman
„Graue Bienen“ (Diogenes)

„Es herrscht
Wut auf die

Zerstörung der
Hoffnungen

und der
Zukunftspläne“
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