Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

10 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.

schadhaft ist, Raketenwerfer fahren teils im-
mer noch mit Reifen »Made in USSR«. »Ihre
Logistik war durchweg katastrophal«, sagt
der Militärhistoriker Phillips O’Brien. »Sie
gingen einfach davon aus, dass sie die Ukrai-
ner überrollen würden und sich nicht um die
Versorgung kümmern müssten.« Seit Russ-
land seine Angriffe auf den Donbass im Osten
konzentriert hat, sind diese massiven Logis-
tikprobleme seltener zu beobachten. Das liegt
auch daran, dass die Verbindungswege meist
kürzer sind und der Vormarsch stockt.
Auch die Kommunikation bereitete den
Angreifern große Probleme. Westliche Ge-
heimdienstler beschrieben gegenüber dem
SPIEGEL ein beträchtliches Chaos. Die weni-
gen Satellitentelefone, die Putins Truppen
nutzten, waren bald nicht mehr einsatzbereit,
selbst Kommandeure telefonieren mit han-
delsüblichen Mobiltelefonen über das ukrai-
nische Netz. Funkgeräte für verschlüsselte
Verbindungen seien entweder unbekannt
oder die Offiziere nicht geschult, mit ihnen
umzugehen, erläutert ein Brüsseler Militär-
analyst. Die Folge: Die Ukrainer können Tele-
fongespräche abhören und hohe Offiziere
über Funksignale lokalisieren.
»Der beeindruckendste Misserfolg in die-
sem Krieg ist die russische Unfähigkeit, ihre
Luftwaffe zu nutzen«, sagt Phillips O’Brien.
»Sie fliegen vor allem Punkt-zu-Punkt-Ein-
sätze, heben von einem Flugplatz in Russland
ab, bombardieren ein vorgegebenes Ziel und

kehren dann so schnell wie möglich zurück.
Was sie nicht tun, ist patrouillieren, um den
Luftraum über dem Kampfgebiet zu kontrol-
lieren.« Die Ukrainer konnten deshalb selbst
tagsüber schwere Fahrzeuge bewegen. »Die
russische Luftwaffe ist sehr altmodisch und
begrenzt in ihren Möglichkeiten, das wusste
man gut aus ihrem Syrieneinsatz«, sagt Mi-
chael Kofman, Russlandexperte am Center
for Naval Analyses, einem Thinktank der
U. S. Navy. »Das ist sozusagen eine Luftwaf-
fe aus den frühen Neunzigerjahren.«
Offenbar fehlt es auch an präzisionsgelenk-
ter Munition. »Die ist sehr kostspielig, und
die Russen haben ihre Luftwaffe auf recht
preiswerte Art neu aufgebaut«, sagt Justin
Bronk, Experte für Luftkrieg am Royal United
Services Institute, einem britischen Think-
tank. Um Ziele auf dem Schlachtfeld anzu-
greifen, seien die Russen auf ungelenkte Bom-
ben angewiesen, die aus niedrigerer Höhe
abgefeuert werden müssten. Das setze die
Flugzeuge der Gefahr durch schultergestütz-
te Flugabwehrraketen aus.
Bis heute ist es Russland nicht gelungen,
eine uneingeschränkte Luftüberlegenheit
über der Ukraine zu erringen, und das hat
auch mit strategischen Entscheidungen zu tun.
Die Russen begannen ihre Offensive gegen
die Ukraine am frühen Morgen des 24. Feb-
ruar zunächst so, wie es Militärexperten er-
wartet hatten. »Es gab schwere, großflächige
Angriffe mit ballistischen Raketen und

Marschflugkörpern auf alle wichtigen boden-
gestützten ukrainischen Radarstationen«, sagt
Justin Bronk. Auf die Langstrecken-Flugab-
wehrsysteme ebenso wie auf Luftwaffenstütz-
punkte und andere Ziele.
Aber es fehlte der logische nächste Schritt:
groß angelegte Luftangriffe, sobald die ukrai-
nische Luftwaffe blind ist und auf beschädig-
ten Start- und Landebahnen festsitzt. Nur
etwa 140 Marschflugkörper seien abgefeuert
worden, schätzten Nato-Experten, dann be-
wegten sich schon Bodentruppen über die
Grenze. Zunächst die Luftüberlegenheit her-
zustellen, überstieg die Kräfte der russischen
Luftwaffe, sagt Kofman: Man hätte zu viele
Flugzeuge und zu viel Zeit verloren.
Katastrophal ist es schließlich um die Diszi-
plin und Kampfmoral der russischen Truppen
bestellt, das zeigen die vielen Verbrechen, die
sie an ukrainischen Zivilisten begangen haben.
Vergewaltigungen, Plünderungen, Folter und
Hinrichtungen lassen das Bild einer Truppe ent-
stehen, die nicht nur auf fremde Menschenleben
wenig gibt, sondern auch auf sich selbst wenig
hält. Da rächte sich, dass die Soldaten ohne
Vorbereitung in einen Krieg geschickt wurden,
der von Anfang an auf falschen politischen An-
nahmen beruhte: dass die Bevölkerung die
Truppen als Befreier empfangen werde.
Denn es ist nicht nur Putins Armee, die in
der Ukraine eine Niederlage erlitten hat. Auch
seine Geheimdienste haben Schwächen offen-
bart. Besonders gilt das für den FSB, zustän-
dig für die Aufklärung auf dem Gebiet der
Ukraine. Er hätte Putin und sein Umfeld
darauf vorbereiten müssen, dass die Ukrainer
in ihrer Mehrheit den Invasoren feindlich
gegenüberstehen. »Aber dem Anführer Russ-
lands etwas zur Ukraine zu sagen, was ihm
nicht gefällt, dazu war offenbar niemand be-
reit«, sagt der Geheimdienstexperte Andrej
Soldatow. »Seit mindestens sieben Jahren
herrscht im Land eine Atmosphäre punktu-
eller Repression – und es kommen mittler-
weile auch hohe FSB-Offiziere in Haft.«
Gescheitert ist der FSB auch in seiner zwei-
ten Rolle: beim Rekrutieren kremltreuer Poli-
tiker in der Ukraine. Es fehlt eine prorussische
Opposition, die Putins Truppen begrüßen und
Wolodymyr Selenskyjs Regierung ersetzen
könnte. Dafür wäre der »Dienst für operative
Information und internationale Beziehun-
gen«, eine Abteilung des FSB, zuständig. Ihr
Chef, General Sergej Besseda, ist nach Solda-
tows Informationen in Haft gekommen. Ver-
mutlich muss er jetzt erklären, wohin eigent-
lich das Geld für die Unterwanderung der
Ukraine geflossen ist.
Zumindest finanziell kommt Russland der-
zeit besser als erwartet durch die Krise, trotz
immer neuer Sanktionen des Westens. Zwar
ist Putins Versuch, die russische Volkswirt-
schaft so autark wie möglich zu machen, ge-
scheitert. Aber der Schaden ist offenbar nicht
so hoch, wie westliche Analysten zunächst
prognostizierten.
»Meine russischen Bekannten, die mit Busi-
Russisches Kriegssymbol »Z« in Sankt Petersburg, Olonez, Moskau: Soll man Krieg Krieg nennen? ness und Politik zu tun haben, waren völlig

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Yuri Kochetkov / epa

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