Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


108 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


D


er Erste Weltkrieg begann am


  1. Juli 1914, als Österreich-
    Ungarn mit Rückendeckung
    des Deutschen Reichs Serbien den
    Krieg erklärte. Am 1. August erklärte
    das Deutsche Reich Russland den
    Krieg, am 3. August Frankreich. Am

  2. August 1914 ging es im Reichstag
    um die notwendigen Kriegskredite,
    wobei es die Befürchtung gab, dass
    die Sozialdemokraten aufgrund ihrer
    pazifistischen Tradition nicht zustim-
    men würden. Aber der Parteivorsit-
    zende Hugo Haase erklärte, dass die
    Sozialdemokratie per se gegen Impe-
    rialismus sei und dass »für unser Volk
    und seine freiheitliche Zukunft ... bei
    einem Siege des russischen Despotis-
    mus ... viel, wenn nicht alles auf dem
    Spiel« stehe. »Es gilt, diese Gefahr
    abzuwehren, die Kultur und die Un-
    abhängigkeit unseres eigenen Landes
    sicherzustellen. Da machen wir wahr,
    was wir immer betont haben: Wir las-
    sen in der Stunde der Gefahr das eige-
    ne Vaterland nicht im Stich.« Ab da
    gab es, von einigen Friedensdemons-
    trationen abgesehen, keinen Wider-
    stand mehr gegen den später als die
    Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
    bezeichneten Krieg.
    Warum ich das erzähle? Um auf
    zwei Aspekte hinzuweisen, die für
    das Verständnis der Gegenwart wich-
    tig sind: erstens auf die Dynamik, die
    Kriege immer entfalten, wenn sie erst
    mal begonnen haben, und zweitens
    auf die Unabsehbarkeit dessen, wie
    politische Akteure auf diese Dynamik
    reagieren. Deshalb wird, sobald ein
    Krieg ausgebrochen ist, alles sehr
    schnell anders, als man es sich zuvor,
    unter Friedensbedingungen, vorge-
    stellt hatte.
    Als Kriegsauslöser 1914 gilt ge-
    meinhin die Ermordung des österrei-
    chischen Thronfolgers Franz Ferdi-
    nand und seiner Gattin in Sarajevo.
    Aber das tödliche Attentat geschah
    bereits einen Monat vor der öster-
    reichisch-ungarischen Kriegserklä-


rung, was schon allein zeitlich auf
keine unmittelbare Kausalität oder
gar Unausweichlichkeit hinweist. In
der Tat waren die Wochen nach dem
Attentat von vielfältigen Erwägungen
in allen später Krieg führenden Län-
dern gekennzeichnet, und es gab –
wie neben Christopher Clark etwa
auch Ian Kershaw oder Ulrich Her-
bert herausgearbeitet haben – auf
keiner Seite die explizite Absicht,
einen Angriffskrieg zu starten. Clark
spricht von »multilateralen Interak-
tionen von fünf autonomen, gleich-
wertigen Akteuren« und einem
»Wirrwarr aus Versprechungen, Dro-
hungen, Plänen und Prognosen«;
seine Metapher von den »Schlaf-
wandlern« bringt prägnant zum Aus-
druck, dass, wie David Lloyd George,
ab 1916 britischer Premierminister,
selbst beschrieb, »die Nationen Euro-
pas über den Rand schlitterten, hinein
in den brodelnden Hexenkessel des
Krieges ohne eine Spur von Verständ-
nis oder Verstörung«. Man muss, den-
ke ich, zum Verständnis der Gegen-
wart zur Kenntnis nehmen, dass Ge-
schichte exakt so geschieht, nicht als
Abfolge von Kausalitäten, sondern
als Interaktion, in der Handlungs-
folgen entstehen, die kein Einzelner
so intendiert hat.

T


atsächlich waren unterschied-
lich ausgeprägte Ängste – etwa
der Briten vor einer Vormacht-
stellung Deutschlands in Europa oder
Österreich-Ungarns vor einem Zerfall
des Vielvölkerstaats – zunächst weit
größer als dezidiert imperialistische
Absichten der einen oder anderen
späteren Kriegspartei: »Jede der
Mächte wollte die Gelegenheit ergrei-
fen, bevor der Feind es tat« (Ian Ker-
shaw). Paradoxerweise trat man also
einen Krieg nicht deshalb los, weil
man ihn wollte, sondern weil man
nicht bereit war, den Frieden vorzu-
ziehen. In der Dynamik der ersten
Augusttage vollzog sich dann rasend

schnell die Ausweitung eines regio-
nalen Konflikts zum Weltkrieg, des-
sen Dimension zu diesem Zeitpunkt
niemand der verantwortlichen Ak-
teure vorhersah: weder die ungeheu-
re Wucht, die die neuen Waffen ent-
falten würden – Panzer, U-Boote,
Flugzeuge, moderne Artillerie –,
noch deren Konsequenzen für neue
Formen des Kriegs wie Zermürbungs-
und Abnutzungskrieg und die Absenz
von klassischen »Entscheidungs-
schlachten« hatten die Zeitgenossen
vor Augen, als der Krieg begann.
Was dann im Verlauf des Kriegs
geschieht, ist nicht einfach Ergebnis
von vorab feststehenden Absichten
oder gar Strategien, sondern ver-
dankt sich jener durch Kriegsgewalt
immer entstehenden Gemengelage
von Aktion und Reaktion, sich ra-
dikalisierenden Feindbildern und
eskalierendem Mitteleinsatz, von
Kriegswirtschaft und tausendfachem
Sterben. Und eben einer sukzessiven
Veränderung von Absichten und
Strategien, wenn er denn seine Dy-
namik entfaltet, der Krieg. So ging es
im Sommer 1914 aus deutscher Sicht
zunächst nicht um territoriale Erobe-
rungen, aber schon im Frühjahr 1915
kursierten eine Menge »Denkschrif-
ten« dazu, welche Annexionen, be-
sonders im Osten Europas, vorzu-
nehmen seien, inklusive der Vertrei-
bung lokaler Bevölkerungen. Und
derlei war keineswegs beschränkt auf
radikale Kreise; eine dieser Denk-
schriften listet etwa Albert Einstein,
Max Planck sowie Max und Alfred
Weber als Unterzeichner. Heißt: Ziel-
setzungen sind im Krieg moving
targets, die im Prozess entstehen.
Ebenso verändern sich die Einstel-
lungen, Stimmungen und Forderun-
gen der Akteure und treiben in Rich-
tungen, die ursprünglich gar nicht zur
Debatte standen.
Und wenn wir von hier aus in
die Gegenwart blenden, ist es schon
bemerkenswert, dass wir in den
zwei Monaten seit Beginn des An-
griffs auf die Ukraine eine deutliche,
wenngleich unausgesprochene Ver-
änderung des Kriegsziels des Westens
verzeichnen. Galt zu Beginn des
Kriegs seine möglichst schnelle Be-
endigung als vordringlichstes Ziel,
ist 70 Tage später common sense,
dass die Ukraine »gewinnen« müsse,
wobei freilich nicht gesagt ist, was
das denn bedeutet: die vollständige
Aufrechterhaltung ihrer territorialen
Integrität? Der staatlichen Souveräni-
tät? Eine Rückeroberung von Don-
bass und Krim? Gar ein Regime-
Change in Russland, wie man neuer-
dings hört?

Lob der Bedachtsamkeit


ESSAY In der Debatte um militärische Hilfe für die Ukraine greift eine hektische


Stimmungspolitik Raum, das Vokabular wird beständig aufgerüstet und


dem Bundeskanzler wird »Zaudern« vorgeworfen. Dabei ist Zögern allemal


klüger als forsches Eskalieren. Von Harald Welzer


Welzer, 63, ist
Publizist, Soziologe
und Sozialpsycholo-
ge. Mit Sönke Neitzel
verfasste er das
Buch »Soldaten:
Protokolle vom
Kämpfen, Töten und
Sterben« (S. Fischer),
eine Mentalitäts-
geschichte des
Zweiten Weltkriegs.
Welzer ist Erstunter-
zeichner des von
Alice Schwarzer
initiierten offenen
Briefs an den
Bundeskanzler, der
eine Verhandlungs-
lösung im Krieg
Russlands gegen die
Ukraine fordert.


Sven Döring / laif
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