KULTUR
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 109
Fragen wie diese verweisen auf die
erstaunliche Absenz einer politischen
Debatte. Weder wird explizit über
Kriegsziele noch über Gestalt und Fi-
guration einer Nachkriegsordnung
gesprochen, obwohl doch ausnahms-
los alle Kriege des letzten halben Jahr-
hunderts, in die der Westen involviert
war, immer von der Vermeidung der
Frage gekennzeichnet waren, wie man
denn wieder herauskommt aus dem,
in das man sich hineinbegeben hat.
Nicht mal die kürzlich geschehene
siegreiche Rückkehr der Taliban und
deren Übernahme einer hochmoder-
nen Kriegsmaschinerie scheint die Er-
innerung wert, dass man keinen Krieg
führen sollte, ohne zu wissen, wie
man ihn beendet.
Stattdessen greift in dieser kurzen
Zeit eine hektische Stimmungspolitik
Raum, in der weder militärische
noch Gewalt verhindernde oder gar
friedenspolitische Strategien die
Luft hoheit beanspruchen können,
sondern eigentümlich selbstreferen-
zielle Forderungen nach immer mehr
und immer schwereren Waffen zur
Unterstützung des »heldenhaften«
Kampfes der Ukrainer. Gleichgültig,
ob solche Waffen zur rechten Zeit
kommen oder ob sie ihrer Natur
und Wirkung nach den Krieg weiter
zu entgrenzen drohen – argumen-
tativ scheint die Solidarität mit den
Angegriffenen auch für ex-pazifis-
tische Grüne wie für einst markt-
rationale Liberale über allem zu ste-
hen. Und damit leider auch über
jeder Vernunft, die über scheinbar
unmittelbare situative Erfordernisse
hinausgeht.
So schlafwandelt man wieder, und
während der Bundeskanzler sich des
zunehmenden »Drucks« aus Medien
und Parteien zu erwehren sucht und
der Vizekanzler in seinen Einlassun-
gen immerhin auf den gerade in sol-
chen Zeiten großen Abstand zwischen
Wünschen und Realitäten verweist,
wird die politische Rede beständig
aufgerüstet (»Völkermord«, »Vernich-
tungskrieg«, »Soldateska« und so wei-
ter) und die Dringlichkeit sofortiger
Aktionen gegenüber Denken, Über-
legung und Abwägung radikal aufge-
wertet. So gilt bereits »Zögern« als
negativ und wird gleich zum »Zau-
dern«, und der depperte Verweis auf
das Ansehen Deutschlands in Europa
wird zum fiktiven Grund erklärt, dass
vorschnelles Handeln irgendwie bes-
ser sei als verantwortliches.
K
ompetenz verleihen sich die
neuen Propagandistinnen der
Tat durch Augenschein vor
Ort, was bekanntlich den größten
Überblick verleiht, und durch einen
seltsamen Schuldstolz, der alles, was
jemals mit Dialog, Verhandlung oder
gar Friedenspolitik zu tun hatte, als
naiv, gestrig oder gar putinversteher-
isch denunziert. Dabei ist schon die
Perspektive, dass Putin weltpolitisch
»isoliert« sei, wie immer behauptet
wird, illusionär: Die Länder, die der
Uno-Resolution nicht zugestimmt
oder sich enthalten haben, repräsen-
tieren insgesamt die Hälfte der Welt-
bevölkerung, und hinsichtlich seiner
energiewirtschaftlichen Beziehungen
steht Putin keineswegs ohne Alter-
nativen dar.
Und was eine zu entwickelnde
Nachkriegsordnung angeht, sollte
man schon aufmerksam zur Kenntnis
nehmen, dass in vielen Ländern
Asiens und Afrikas die Rollen des
Westens auf der einen und Russlands
auf der anderen Seite keineswegs mo-
ralisch eindeutig zugeordnet werden,
sondern der Westen, wie der einfluss-
reiche Umweltaktivist und Autor
Chandran Nair gerade in einem viel
zitierten Artikel dargelegt hat, einmal
mehr als überheblich und ignorant
erscheint. Schon dessen Titel »Kriege
sind nur dann böse, wenn Westler die
Opfer sind« verweist auf jenen Vor-
wurf der doppelten Moral, der west-
lichen Akteuren gerade aus der Per-
spektive des globalen Südens heraus
gemacht wird und der keineswegs
unerheblich für die Frage ist, wie al-
lein denn Putin und Russland global
betrachtet eigentlich sind.
Auch Pankaj Mishra hat im
SPIEGEL der vergangenen Woche in
dieser Hinsicht von einer Selbsttäu-
schung des Westens gesprochen. Vor
dem Hintergrund künftiger imperia-
ler Konflikte werden Europa und die
USA gut daran tun, nicht zu selbst-
gewiss in ihren Selbstlegitimationen
und ihrem Gewicht in einer künftigen
Weltordnung zu sein – schon gar
nicht in einer sich abzeichnenden
Konstellation eines global erweiterten
kalten Kriegs.
Vor dem Hintergrund solcher
Überlegungen würde ich eine Politik
des Zögerns in gefährlichen Konstel-
lationen dem forschen Eskalieren mit
unklaren Absichten und Aussichten
deutlich vorziehen. Die ist der Kom-
plexität der Lage gerade nicht an-
gemessen und sollte mit größter
Skepsis betrachtet werden. Daran,
dass ein Krieg gegen eine Atom-
macht im herkömmlichen Sinn nicht
»gewonnen« werden kann, hat Jür-
gen Habermas aktuell noch einmal
in einem Artikel in der »Süddeut-
schen Zeitung« erinnert. Und darauf
hingewiesen, dass der Wunsch nach
einer binären Entscheidung zwi-
schen »richtig« und »falsch« zwar
nachzuvollziehen, aber unmöglich
zu erfüllen ist. Angesichts von all-
dem wäre es in der Tat mehr als fahr-
lässig, die innen- wie außenpoliti-
schen Gefahren eines erneuten
Schlaf wandelns zu ignorieren. n
Der depperte
Verweis auf
das Ansehen
Deutschlands
wird zum
fiktiven Grund
erklärt, dass
vorschnelles
Handeln
besser sei
als verantwort-
liches.
Proukrainische
Demonstrantinnen
in New York
Ismail Ferdous / Bloomberg via Getty Images