Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 11

Quartett der
Mächtigen

* Schätzung, bei EU für 2021
** bei gleichbleibenden
Lebensumständen
*** kauraftbereinigte
Vergleichswährung
SWorld Factbook◆Quellen: Weltbank, CIA

Bevölkerung 2022*
in Mio.

Russland

China

USA

EU

142

1411 337

450

Militärausgaben in %
des BIP

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BIP pro Kopf in
1000 internationalen
Dollar***

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Bevölkerungswachs-
tum im Vergleich zum
Vorjahr in %

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Putin tritt zum
ersten Mal als
Präsident an

Lebenserwartung
bei Geburt im
jeweiligen Jahr**
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alarmiert«, sagt die Politologin Tat­
jana Stanowaja. »Aber seit zwei Wo­
chen ist die Stimmung anders. Jetzt
höre ich: Es ist doch nicht so schlimm.
Manche westlichen Marken sind geblie­
ben, außerdem können wir auch ohne
iPhones leben, oder wir kaufen sie in
Kasachstan.« Und auch Putin selbst
gebe sich optimistisch. »Beim Militär
gab es unangenehme Überraschungen
für ihn. In Wirtschaft und Finanzen,
denkt er, läuft es weit besser.«
Das heißt nicht, dass die Sanktio­
nen keine Verheerungen anrichten –
aber noch sorgen die hohen Energie­
preise für einen weichen Fall. In den
zwei Monaten seit der Invasion hat
Russland mit dem Export von Öl, Gas
und Kohle 63 Milliarden Euro ein­
genommen – 44 Milliarden davon
flossen aus der EU, 9 Milliarden Euro
allein aus Deutschland. Das ent­
spricht rund einer Milliarde Euro am
Tag. Ein Kriegstag kostet Russland
nur halb so viel, nämlich 500 bis 600
Millionen Dollar, schätzt der Moskau­
er Ökonom Nikolaj Kulbaka.
Zwar haben die USA ein Ölembar­
go verhängt, die EU eines angekün­
digt. Aber andere Käufer stehen
längst bereit. Und außenpolitisch ist
Russland weniger isoliert, als es im
Westen scheint. Putin, so urteilt die
Washingtoner Russlandexpertin An­
gela Stent, habe zwar den Widerstand
des Westens unterschätzt – aber er
habe richtig erkannt, dass das nicht
westliche Ausland ihn nicht verurtei­
len werde. »Für einen Großteil der
Welt ist Putin kein Paria.«
Das gilt für China, aber es gilt auch
für seinen Rivalen Indien, denn das
Land hängt von russischen Rüstungs­
importen ab. Und es gilt für Israel,
dessen Sicherheit durch Russlands
Syrienintervention unmittelbar be­
rührt wird. Allerdings hat Putins
Außenminister Sergej Lawrow es ge­
schafft, mit unsinnigen Äußerungen
über den angeblichen Antisemitismus
von Juden (zu denen er fälschlich


auch Hitler zählt) die Regierung in
Jerusalem zu empören. Am Donners­
tag griff Putin sogar persönlich zum
Telefonhörer und entschuldigte sich
beim israelischen Premierminister
Naftali Bennett für Lawrows Ausfall.
Russlands Diplomatie macht derzeit
keine gute Figur. Seine Nachbarn auf
dem Gebiet der ehemaligen Sowjet­
union hat es vor den Kopf gestoßen,
zur Feier des gemeinsamen Sieges über
Hitlerdeutschland am 9. Mai wurden
sie diesmal gar nicht erst eingeladen.
Und Nachbar Finnland wird aus Angst
vor Moskau wohl in Kürze ein Beitritts­
gesuch an die Nato stellen, zusammen
mit Schweden. Putin selbst hat dafür
gesorgt, dass das westliche Bündnis
näherrückt. Russlands Soft Power, sei­
ne Anziehungskraft auf andere Gesell­
schaften, schmilzt. Stattdessen haben
Hunderttausende gebildete, junge Rus­
sen das Land fluchtartig verlassen –
nach Tiflis und Eriwan, Istanbul und
Berlin, Riga und London.
Die Frage ist nun: Welche Schlüs­
se zieht Putin aus den Fehlern und
Niederlagen der vergangenen Mona­
te? Wenn die Fiktion einer schnellen
»militärischen Spezialoperation« in
der Ukraine gescheitert ist – wird er
sein Volk nun auf einen echten Krieg
einstimmen, einschließlich einer Mo­
bilisierung aller Kräfte? Der britische
Verteidigungsminister Ben Wallace
hat bereits öffentlich darüber speku­
liert, dass Putin den Tag der Sieges­
parade dazu nutzen könnte, die Mo­
bilmachung zu verkünden.
Die russische Armee braucht mehr
Soldaten, das ist offenkundig. Ohne
nationale Mobilmachung, so der
Militärexperte Michael Kofman, sei
Russlands Angriffspotenzial mit der
Kampagne im Donbass erschöpft:
»So, wie die Dinge stehen, wird dies
ihre letzte große Offensive sein.«
Nur wäre eine Mobilmachung ein
Risiko. Die Zustimmung zum Krieg
in Russland könnte sinken, wenn der
nicht mehr nur im Fernsehen statt­
findet, sondern noch mehr Familien
Opfer beklagen müssten. Putin hat
bisher in der Öffentlichkeit betont,
dass keine Wehrpflichtigen in der Ukrai­
ne eingesetzt würden. Das stimmt
zwar nicht – aber vieles spricht dafür,
dass er selbst das nicht wusste, so wie
er auch vieles andere nicht weiß, was
hinter den Potemkinschen Fassaden
seines Staates vorgeht. Er war darauf
bedacht, vom Durchschnittsbürger
nicht allzu viel zu verlangen. Außer­
dem müsste er für die Mobilmachung
den Krieg auch einen Krieg nennen
und nicht mehr »militärische Spezial­
operation auf dem Territorium der
Ukraine«. Noch gilt: Wer Putins De­

saster einen Krieg nennt, kann ins
Gefängnis kommen.
»Putin glaubt wirklich, dass dies kein
Krieg mit der Ukraine ist. Eine allge­
meine Mobilmachung widerspricht im
Kern dem, wie er Russlands Vorgehen
versteht«, meint die Politologin Stano­
waja. »In seinen Augen richtet sich die
Operation gegen ein ukrainisches Re­
gime und eine korrupte Elite, die vom
Westen engagiert wurde und gegen das
eigene Volk handelt. Sie richtet sich
nicht auf die Eroberung von Territo­
rium.« Putin wolle den Ukrainern hel­
fen, einen vom Westen unabhängigen
Staat aufzubauen. »Das klingt lächer­
lich, aber es ist seine Wirklichkeit.«
Eigene Fehler sieht Putin nicht. In
seinen Augen hat der Westen die
Ukraine in einen künstlichen Feind­
staat, ein »Anti­Russland« verwan­
delt. Den Kampf mit dem Westen hält
Putin für unausweichlich, unaufschieb­
bar, vom Gegner aufgezwungen. »Er
sieht keine Alternative. Entweder li­
quidiert Russland die Ukraine als
›Anti­Russland‹, oder Russland hört
auf zu existieren«, sagt Stanowaja.
Noch kann sich Putin dabei auf die
russische Gesellschaft stützen, weil sie
derzeit keine kritischen Fragen stellt.
Die unerwartet scharfen Sanktionen
des Westens sowie eine Art psycholo­
gischer Selbstschutz haben dafür ge­
sorgt, dass sie Putins bequeme Erzäh­
lung vom angeblichen Angriff des Wes­
tens auf Russland, dem man nur zuvor­
gekommen sei, akzeptiert. Die liberale
Wirtschaftselite, die am meisten unter
den Sanktionen leidet, ist verstummt,
nur sehr wenige Beamte und Manager
haben es gewagt, sich abzusetzen.
Im Kreml­Fernsehen wird zudem
ausgiebig über die neuen Atomwaffen
spekuliert, mit denen Russland den
Westen in Schutt und Asche legen
könnte. Auch Putin selbst hat jüngst
vor jeder »Einmischung von der
Seite« in den Krieg in der Ukraine
gewarnt – wer dabei »für Russland
inakzeptable Bedrohungen strategi­
scher Art schafft, der muss wissen,
dass unsere Gegenschläge blitzartig
und schnell sind. Wir haben dafür
In strumente, derer sich sonst nie­
mand rühmen kann.« Die werde man
einsetzen, die Entscheidungen für den
Ernstfall seien »bereits getroffen«.
Das war eine deutliche rhetorische
Eskalation. Gut möglich, dass Putin
damit das Bild der Schwäche kom­
pensieren wollte, das seine Armee in
der letzten Zeit abgegeben hat. Auf
jeden Fall aber signalisierte er damit:
Es gibt für mich, für uns kein Zurück
mehr in diesem Kampf.

Präsident Putin


Christian Esch, Susanne Koelbl,
Fritz Schaap n

Alexander Zemlianichenko / AP
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