Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


110 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


Müller-Westernhagen hat sich Mitte April
mit dem SPIEGEL in den Büros seiner neuen
Plattenfirma verabredet: bei Sony Music in
Berlin. Es erscheint ein schmaler, unschein-
barer Mann, ganz in Schwarz gekleidet. Er hat
darum gebeten, sich nicht extra fotografieren
lassen zu müssen. Es würde ihn zu sehr an-
strengen, er möchte sich gern auf das Gespräch
konzentrieren. Vielleicht stimmt das. Aber ver-
mutlich möchte er vor allem die größtmögliche
Kontrolle über seine Außenwirkung behalten.
Denn Kontrolle, das wird im Gespräch klar,
gibt der Musiker ungern ab. Bald erscheint sein



  1. Album, »Das eine Leben«. Es ist das erste
    mit neuer Musik seit acht Jahren.


SPIEGEL: Herr Westernhagen, Sie sind 73 und
waren vor vier Jahren zuletzt auf Tournee.
Hat man da kurz den Gedanken: Hoffentlich
will mich überhaupt noch einer sehen?
Westernhagen: Natürlich. Das denke ich qua-
si jedes Mal. Es gibt ja kein Recht auf Erfolg.
Oder darauf, dass Dinge bleiben, wie sie wa-
ren. Man schaue sich nur zum Beispiel Boris
Becker an, sein Geld und seinen Erfolg. Es ist
ja offenbar alles weg.
SPIEGEL: Aber bei Ihnen ist noch was da?
Westernhagen: Das hoffe ich doch.
SPIEGEL: Der Deutschrapper Capital Bra hat
über vier Millionen Follower auf Instagram.
Sie sind einer der erfolgreichsten deutschen
Musiker, haben mehr als zwölf Millionen
Tonträger verkauft – und haben nicht mal
20 000 Abonnenten.
Westernhagen: Ja, und es ist mir komplett egal.
Ich bin auch nicht dieser Typ, der digitale Her-
zen verteilt und schreibt: »Danke, ich liebe euch
alle.« Ich liebe es, Musik zu machen. Aber die-
se inflationäre Verwendung von Liebe in den
sozialen Netzwerken und diese Anbiederung
seinen Fans gegenüber, das widert mich an.
SPIEGEL: Aber kommt da nicht mal jemand
und sagt: Herr Westernhagen, es sind neue
Zeiten, da muss jetzt mal dringend mehr
geschehen auf Ihrem Instagram-Kanal?
Westernhagen: Versuche gibt es natürlich im-
mer wieder. Aber ohne jetzt wieder gleich
arrogant wirken zu wollen: Die Autonomie,
nicht mehr alles mitmachen zu wollen und zu
müssen, die habe ich mir in den letzten Jahren
erarbeitet.


SPIEGEL: Also redet Ihnen niemand mehr
rein?
Westernhagen: Im Großen und Ganzen nein.
Und das ist natürlich geil. Das ist quasi das
Beste am Erfolg. Die Plattenfirmen wissen
nicht mal, wann genau ich im Studio bin. Ich
mache einfach und melde mich, wenn ich fer-
tig bin. Dann spiele ich denen meine neuen
Songs vor und sage: Take it or leave it.
SPIEGEL: Wenn das das Beste am Erfolg ist,
was ist das Schlechteste?
Westernhagen: Dass du im Moment deines
größtmöglichen Erfolgs eigentlich ein Wrack
bist. Auf meinem damaligen Höhepunkt war
ich am unglücklichsten. Ich wurde depressiv
und vollkommen paranoid. Ich war kurz da-
vor, mich zu verlieren. Ich wollte aber nicht
vor die Hunde gehen. Ich wollte leben und
mich nicht leben lassen. Und das ist eben auch
ein Entschluss. Ich sage immer: Alt zu werden,
das ist auch eine Entscheidung.
SPIEGEL: Wie haben Sie diesen Tiefpunkt
überwunden?
Westernhagen: In vielen kleinen Schritten.
Ich habe mich zum Beispiel gegen die großen
Stadionkonzerte entschieden. Und bewusst
gegen eine internationale Karriere. Weil mir
meine Gesundheit und meine Anonymität im
Ausland wichtiger waren. Und ich habe mich
von Leuten getrennt, die mehr am Geld inte-
ressiert waren als an mir als Mensch und
Künstler.
SPIEGEL: Warum halten so viele Menschen
Sie für arrogant?
Westernhagen: Ich glaube, weil sie meine
Distanziertheit mit Arroganz verwechseln.
Aber es war immer schon so, dass mich Men-
schen entweder gefeiert oder gehasst haben.
Ich finde das aber gut. Wenn Menschen nicht

manchmal auch polarisieren, finde ich das
verdächtig. Wenn dich alle toll und nett fin-
den, bist du Helene Fischer.
SPIEGEL: Und Sie möchten nicht Helene
Fischer sein?
Westernhagen: No! Auf keinen Fall.
SPIEGEL: Wann haben Sie sich zuletzt ge-
googelt?
Westernhagen: Warum sollte ich das tun?
SPIEGEL: Um zu erfahren, was die Menschen
über Sie schreiben und denken. Die »Berliner
Zeitung« schrieb zum Beispiel gerade über
Ihre neue Single »Zeitgeist«: »Opa meckert«.
Westernhagen: Ja, was soll ich jetzt dazu sa-
gen? Wenn das deren Sichtweise ist, dann ist
das so. Ich wäre übrigens sehr gern Opa. Das
habe ich auch meiner Tochter schon gesagt.
SPIEGEL: Also verletzt es Sie nicht, als Opa
bezeichnet zu werden?
Westernhagen: Früher hätte mich das verletzt.
Aber wenn man sich erst mal davon frei
macht, was Leute von einem denken, dann
ist das die maximale Freiheit.
SPIEGEL: »Freiheit«, so heißt Ihr wohl erfolg-
reichster Song. Er wurde zuletzt von Impf-
gegnern und Querdenkern benutzt, um gegen
die Coronapolitik Stimmung zu machen.
Westernhagen: Tja, solange die Komposition
nicht verändert wird, kann man juristisch
nicht dagegen vorgehen. Zuerst wollte ich gar
nicht reagieren, um denen nicht noch eine
größere Plattform zu bieten. Aber als das im-
mer mehr wurde, habe ich dann doch mit
einem Foto auf den Unfug reagiert.
SPIEGEL: Da haben Sie dann doch mal auf
Instagram gepostet. Das Bild zeigt, wie Sie
geimpft werden. Darunter steht nur das Wort
»Freiheit«.
Westernhagen: Ja. Ich nehme mich eigentlich
nicht allzu wichtig, aber das konnte ich ein-
fach nicht so stehen lassen.
SPIEGEL: Eigentlich würden Sie doch gern ein
deutscher Held sein, ohne als einer gefeiert
zu werden, oder?
Westernhagen: Sie halten mich für viel klüger
und abgewichster, als ich in Wirklichkeit bin.
Ich denke gar nicht so viel darüber nach, was
ich bin und sein möchte.
SPIEGEL: Während der Pandemie gab es viel
Zeit zum Nachdenken. Wie haben Sie die
Coronazeit verbracht?

»Wenn dich alle toll finden,


bist du Helene Fischer«


SPIEGEL-GESPRÄCH Der Musiker Marius Müller-Westernhagen verabscheut Männerschweiß und Machotum,


singt gegen Gier und Turbokapitalismus, rät zur Psychotherapie und betreibt Selbstsuche –


und findet nichts dabei, mit Gerhard Schröder und Wladimir Putin zu feiern. Wie passt das zusammen?


»Auf meinem damaligen
Höhepunkt war ich
am unglücklichsten. Ich
wurde depressiv und
vollkommen paranoid.«
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