KULTUR
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 115
M
anche Sätze sind so gut, dass
sie dem alten Goethe zu-
geschrieben werden, auch
wenn sie wahrscheinlich gar nicht von
ihm stammen, dieser zum Beispiel:
»Nur wo du zu Fuß warst, bist du
auch wirklich gewesen.« Egal, die
Moral des Satzes gilt: Nur die ei-
gene Anschauung liefert echte Er-
kenntnis. Es ist die Moral, auf die das
neue Buch des Essayisten und Kultur-
wissenschaftlers Christian Schüle
hinausläuft.
Schüle erinnert sich an besondere
Momente seiner Reisen. Er nimmt
den Leser mit in die usbekische Prä-
rie, ins westsibirische Altaigebirge
und in die Fischmarkthalle von Ras
al-Chaima in den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten. In der marokkani-
schen Hafenstadt Tanger begegnet er
einem konservativen Muslim und
sinniert über familiäre Moral und
Gleichberechtigung, in einem Alko-
holikerdorf in der russischen Provinz
denkt er nach über Demokratie, die
alle dort nur »Scheißokratie« nennen.
Und so reist Schüle im Kopf oft noch
viel weiter, als ihn das Flugzeug ge-
bracht hat, ja es scheint fast so, als ob
jede Erinnerung an eine Reisebewe-
gung ihn auch geistig mobil machte.
Das Buch ist eine Mischung aus
Reportage und Essay, eine philoso-
phische Suche nach dem Sinn des
Reisens. Und es erscheint natürlich
zur exakt rechten Zeit nach 26 Mo-
naten, in denen uns das Virus mal
mehr, mal weniger konsequent in
unsere analogen Blasen gezwungen
hat: die eigene Familie, das eigene
Dorf oder den eigenen Stadtteil, das
eigene Milieu. So viel Zeit mit sich
selbst tut nicht jedem gut.
Zumal man sich selbst – das ist das
Paradox, auf das Schüles Reisephilo-
sophie hinausläuft – vielleicht am
besten begegnet, indem man Fremde
trifft. »Wer die Welt nicht aufsucht,
wird sich nicht finden.«
Schüle ist ein Romantiker des Rei-
sens, ein Schwärmer, der von seinem
Pathos manches Mal davongetragen
wird, als säße er im Flieger, zwölf
Kilo meter über der irdischen Realität.
Dann formuliert er zu selbstverliebt,
zu ausufernd auch: die Krankheit des
Alleinreisenden vielleicht, der unter-
wegs viele Monologe geführt hat.
Andererseits ist das ja die Kunst,
die der wahrhaft Reisende beherrscht:
sich unterwegs auch mal zu verlieren.
Eigentlich ist Schüle nämlich ein
toller Stilist mit Talent zum Aphoris-
mus. Er liefert im Vorbeiflug genug
Material für einen ganzen Abriss-
kalender: »Je mehr Rücksicht der
Mensch auf Zeit nimmt, desto weni-
ger Rücksicht nimmt die Zeit auf den
Menschen.« Von jemandem wie ihm
bekäme man gern mal eine Urlaubs-
postkarte.
Wobei Schüle strikt zwischen
Urlauben und Reisen unterscheidet:
Wer urlaubt, ist irgendwo angekom-
men – und fährt nach einer Zeit wie-
der weg. Wer reist, ist unterwegs.
»Beim Reisen weiß man nie, was
einen erwartet. Beim Urlaub ist das
Erwartete vorgeplant.«
Das Buch lehrt, dass auch jenseits
weltweiter Pandemien in jeder Begeg-
nung die Gefahr lauert – und sei es
nur die, sich mit fremden Gedanken
anzustecken. Das Abwehrsystem der
eigenen Moral und Weltanschauung
wird auf Reisen schnell löchrig. Schü-
le wirbt für dieses Risiko: Wer reist,
räumt der Wirklichkeit eine Chance
ein, die eigenen Überzeugungen zu
widerlegen. »Wer die Welt mit eige-
nen Augen angeschaut hat, kann die
Weltanschauung von sich weisen.«
Was für ein schöner, wahrer Satz!
Natürlich öffnen sich Schüle, dem
Essayisten und Buchautor, der immer
wieder auch Reisereportagen für Zei-
tungen und Zeitschriften schreibt,
unterwegs Türen, die sich normalen
Reisenden nicht öffnen. Das hätte er
im Text durchaus mal an einer Stelle
reflektieren dürfen. Tourismus ist
schließlich »organisierte Außeralltäg-
lichkeit«, wie der Soziologe Robert
Schäfer es einmal formuliert hat. Eine
Außeralltäglichkeit, die sich auf Rei-
sen normaler Reisender allzu oft als
Trugbild entpuppt.
»Der Tourist zerstört das, was er
sucht, indem er es findet«, schrieb
Hans Magnus Enzensberger schon
1958, und in den Jahrzehnten danach
wurde die Diagnose immer augen-
fälliger. »Overtourism« hieß die Mo-
devokabel, die Ende der Zehnerjahre
gemeinsam mit Millionen Touristen
um die Welt ging. Dann kam Corona.
Und heute? Das Problem Overtou-
rism könnte schneller wieder auftau-
chen als die nächste Virusvariante,
das weiß auch Schüle. »Wer reist,
dringt immer auch aus egoistischen
Motiven in fremde Reservate ein und
verändert (oder zerstört) sie dadurch
zwangsläufig«, schreibt er. Aber des-
halb oder auch aus Gründen des Kli-
maschutzes die Reisemobilität ein-
schränken? Schüle warnt vor einer
asketischen Moral und vor weltan-
schaulicher Isolierung, er singt das
Hohelied der »leibhaftigen Erfah-
rung«, die durchs Surfen durch digi-
tale Welten nicht zu ersetzen sei:
»Bildschirme haben exzellente Ober-
flächen, aber geringe Tiefe.« Über
»Bekenntnis-Banderolen und Com-
munity-Gezwitscher« allein lasse sich
Völkerverständigung jedenfalls nicht
herstellen.
Wer reist, so wie Schüle sich das
vorstellt, der liegt nicht einfach am
Strand in Antalya. Er klappert auch
nicht einfach Sehenswürdigkeiten ab
in Paris. Er gibt Kontrolle ab, setzt
sich dem Zufall aus – und macht dabei
eine Erfahrung, die gar nicht hoch
genug geschätzt werden kann in Zei-
ten weltanschaulicher und politischer
Polarisierung: die Erfahrung, fremd
zu sein an einem Ort.
Tobias Becker n
Hinaus ins Offene!
SACHBUCHKRITIK Nach 26 Monaten Pandemie schwärmt der Kultur-
wissenschaftler Christian Schüle von der Kraft des Reisens.
Tramperin in
Spanien
»Wer die Welt
mit eigenen
Augen
an geschaut
hat, kann
die Welt-
anschauung
von sich
weisen.«
Christian Schüle: »Vom Glück, unterwegs zu
sein. Warum wir das Reisen lieben und brau-
chen«. Siedler; 256 Seiten; 22 Euro.
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