Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

TITEL


12 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.


Kofman, 40, ist Direktor des Forschungs­
programms für Russlandstudien des Center
for Naval Analyses, eines Forschungszentrums
der U. S. Navy und des U. S. Marine Corps. Er
ist in der Ukrai ne geboren.


SPIEGEL: Herr Kofman, die russische Offen-
sive im Donbass verläuft schleppend. Was
bedeutet das?
Kofman: Das russische Militär versucht zu
retten, was es noch retten kann. Vieles in
diesem Krieg wurde in den ersten drei
Wochen entschieden. Die jetzige Phase ist
nicht so ausschlaggebend. Egal was im Don-
bass passiert – das Hauptziel Russlands ist
gescheitert: der Regimewechsel in der Ukra-
ine. Auch für das langfristige militärische
Gleichgewicht ist die Schlacht nicht ent-
scheidend. Russland hat angesichts des der-


zeitigen Zustands seiner Streitkräfte und
seiner hohen Verluste kaum Chancen, ein
größeres Gebiet zu erobern. Selbst die Er-
oberung des restlichen Donbass ist alles
andere als sicher.
SPIEGEL: Die ersten drei Wochen waren ent-
scheidend?
Kofman: Ja, da scheiterte der russische Ver-
such, die ukrainische Führung zu stürzen. Und
da haben die russischen Streitkräfte den Groß-
teil ihrer Verluste erlitten. Die Entscheidun-
gen, die die russische Führung zu Beginn des
Krieges traf, verurteilte ihren Feldzug in vie-
lerlei Hinsicht zum Scheitern.
SPIEGEL: Wurde die Stärke des russischen
Militärs generell überschätzt?
Kofman: Die meisten Analysten waren der
Meinung, dass dies ein ziemlich harter Kampf
für Russland werden würde – dass das russi-

sche Militär der Ukraine aber quantitativ und
qualitativ überlegen wäre. Die Annahme war:
Die Ukraine würde einen konventionellen
Krieg verlieren, könnte aber einen Guerilla-
krieg gewinnen. Es gibt also Bereiche, in
denen wir das russische Militär überschätzt
haben, doch ehrlicherweise haben wir wohl
eher das ukrainische Militär unterschätzt. Die
Frage ist: Wie viel vom Scheitern der Russen
ist die Folge eines schlechten Plans, und in-
wieweit handelt es sich schlicht um eine
schlechte Armee?
SPIEGEL: Ist Wladimir Putins Armee also ein
Papiertiger?
Kofman: Bis zu einem gewissen Grad handelt
es sich um eine schlechte Armee, aber sie
hatte auch einen schlechten Plan: Die russi-
sche Führung hat versucht, das Militär auf
eine Art und Weise zu nutzen, für die es

»Es wäre ein Fehler, Russland


abzuschreiben«


STRATEGIE Der US-Militärexperte Michael Kofman gilt als führender Kenner der russischen Armee.


Er erklärt, welche Fehler Moskau im Ukrainekrieg gemacht hat und welche


Erkenntnisse sich daraus für einen möglichen Konflikt mit der Nato ziehen lassen.


Zerstörte Häuser im Kiewer Vorort Irpin: »Der Krieg in Afghanistan war ein viel einfacheres Unterfangen«


Emilio Morenatti / AP / dpa
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