Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 13

nicht konzipiert wurde. Ich bin mir
nicht sicher, ob irgendein anderes
Militär mit einem solchen Plan
gegen die ukrainischen Streitkräfte
erfolgreich gewesen wäre. Die
Papiertiger-These, die jetzt vielfach
vertreten wird, ist deshalb falsch.
Viele Militäranalysten übersehen
gern die Nuancen: Sie halten jeman-
den entweder für einen Meter groß
oder für vier Meter groß.
SPIEGEL: Ist die russische Armee an
ihren Fähigkeiten gescheitert – oder
an politischen Vorgaben?
Kofman: Die russische politische Füh-
rung hat den Unsinn, den sie über die
Ukraine verbreitet hat, selbst so sehr
geglaubt, dass sie dachte, die Ukraine
würde sich innerhalb weniger Tage
ergeben. Deshalb hat sie keinen ernst-
haften Krieg geplant. Das hatte enor-
me Auswirkungen sowohl auf die
Moral der Truppen, die im Grunde in
die Irre geführt wurden, als auch auf
die Organisation der Logistik.
SPIEGEL: Gibt es weitere Gründe da-
für, dass die Offensive so schlecht lief?
Kofman: Die Kampagne war zu Be-
ginn rätselhafterweise in vier ver-
schiedenen Einsatzverbänden orga-
nisiert, und jeder wurde von einer
eigenen Führung geleitet.
SPIEGEL: Die Luftwaffe wurde offen-
bar kaum zur Unterstützung der
Truppen eingesetzt. Warum?
Kofman: Hätte die russische Luftwaf-
fe versucht, die Luftüberlegenheit zu
erringen, hätte sie enorm viele Flug-
zeuge verloren. Zweitens hätte sie
Monate gebraucht, bis der erste rus-
sische Soldat die Grenze überquert
hätte. Bei den Schwachstellen des
russischen Militärs steht die Luft waffe
weit oben auf der Liste. Es mangelt
ihr an Erfahrung, an Präzisionsmuni-
tion und an modernen Mitteln zur
Zielerfassung.
SPIEGEL: Welches sind weitere
Schwachstellen?
Kofman: Ein wichtiger Punkt ist ihre
Unfähigkeit, sicher zu kommunizie-
ren. Ich vermute, dass wir deshalb so
viel weniger elektronische Kriegsfüh-
rung sehen, als wir erwartet haben.
SPIEGEL: Wie sieht das russische Vor-
gehen im Donbass zurzeit aus?
Kofman: Russland hat seine Truppen
neu organisiert: in eine Hauptfront
mit mehreren Vorstoßachsen. Der
Kampf konzentriert sich vor allem
auf den Norden des Donbass, entlang
des Flusses Siwerskyj Donez und öst-
lich der Stadt Sjewjerodonezk. Im
Süden, um Saporischschja, findet eine
Reihe von Unterstützungsangriffen
statt. Die Russen versuchen, ihre ver-
bliebene militärische Macht zu nut-
zen, um im Donbass vollständig vor-


zudringen. Doch ihre Kräfte wurden
in den ersten drei Wochen des Krieges
erheblich zermürbt.
SPIEGEL: Erkennen Sie einen Plan?
Kofman: Ich denke, er besteht darin,
die ukrainischen Streitkräfte an meh-
reren Orten einzukreisen, um sie in
kleinere Verbände aufzusprengen.
SPIEGEL: Zu Beginn des Krieges, beim
Vormarsch auf Kiew, waren viele Ex-
perten erstaunt über das Vorgehen
der Russen – sie fuhren in langen Ko-
lonnen gen Kiew, ließen Panzer und
Artillerie ohne nennenswerte Luft-
unterstützung fahren und waren für
die Ukrainer eine leichte Beute. Hat
sich daran etwas geändert?
Kofman: Die russischen Einheiten
rückten vor, ohne mit Widerstand zu
rechnen – deshalb erlitten sie be-
trächtliche Verluste. Nun kämpfen sie
organisierter, setzen Artillerie und
Luftunterstützung ein. Aber ihr größ-
tes Problem ist, dass ihnen die Trup-
pen fehlen. Insgesamt hat das russi-
sche Militär 15 bis 20 Prozent seiner
Panzer und schweren gepanzerten
Kampffahrzeuge innerhalb seiner ge-
samten aktiven Streitkräfte verloren.
Die meisten russischen Einheiten
kämpfen in sogenannten taktischen
Bataillonsgruppen (BTG), mit jeweils
400 bis 900 Mann, die Infanterie,
Artillerie, Flugabwehr und Panzer
vereinen. Schätzungsweise verfügen
die Russen über etwa 30 BTG im
Norden und über vielleicht insgesamt
80 in der ganzen Ukraine. Bei einigen

dieser Einheiten handelt es sich
aber nur noch um Fragmente. Auch
die ukrainischen Streitkräfte haben
durch die monatelangen Kämpfe
Verluste erlitten, ihr genauer Zustand
ist unbekannt. Dennoch hat die
Ukraine erhebliche Vorteile. Im Bo-
denkrieg ist der Verteidiger immer
im Vorteil.
SPIEGEL: Haben die Russen ihre Tak-
tik geändert?
Kofman: Sie gehen diese Schlacht de-
finitiv anders an, dennoch haben sie
strukturelle Probleme, die mit Orga-
nisation, Ausbildung und Kultur zu
tun haben – nichts davon ist kurz-
fristig zu lösen. Obwohl ihre Streit-
kräfte über eine starke Artillerie ver-
fügen, setzen sie diese nicht annä-
hernd so effektiv ein wie erwartet.
Der größte Unterschied besteht darin,
dass sie begonnen haben, Drohnen
zur Aufklärung einzusetzen. Und sie
rücken nun mit einer höheren Kon-
zentration von Kräften und unterstüt-
zendem Feuer vor. Insgesamt scheint
der Einsatz im Donbass besser orga-
nisiert zu sein.
SPIEGEL: Sie kommen trotzdem nur
langsam voran – warum?
Kofman: Weil viele ukrainische Trup-
pen in Verteidigungspositionen
kämpfen. Und das Terrain ist voll von
Dörfern und kleinen Städten.
SPIEGEL: Oder ist es schlechte Lo-
gistik?
Kofman: Ich sehe an dieser Front nicht
die gleichen logistischen Probleme
wie im Norden. Das eigentliche Pro-
blem ist die Truppendichte und die
Moral. Wenn Einheiten aufgerieben
werden, verlieren sie ihren Zusam-
menhalt – und die Bereitschaft zu
kämpfen sinkt.
SPIEGEL: Wie kann es sein, dass Russ-
land trotz seiner Größe zu wenig
Soldaten hat?
Kofman: Das Militär kann in Frie-
denszeiten 160 bis 170 BTG aufstel-
len, ein Großteil davon war in der
Ukraine im Einsatz – aber dieses Mi-
litär ist nicht dafür gedacht, einen
großen Krieg ohne Mobilmachung
zu führen. Die Grundüberlegung war,
dass die Armee im Fall eines Krieges
mit der Nato Monate Zeit haben wür-
de, um zu mobilisieren. Da sie jetzt
aber nur quasi in Friedensstärke ope-
riert, ist sie bereits an ihrer Kapazi-
tätsgrenze.
SPIEGEL: Warum erklärt Putin nicht
offiziell den Krieg und ruft eine all-
gemeine Mobilmachung aus?
Kofman: Falls das russische Militär
verliert und die Ukrainer erhebliche
Gebiete zurückerobern, dann würde
er das wohl tun. Aber ich glaube, Putin
will es nicht tun, weil er mit einer all-

Militäranalyst
Kofman

»Dieses
Militär ist
nicht dafür
gedacht,
einen großen
Krieg
ohne Mobil-
machung
zu führen.«

Stephen Voss / DER SPIEGEL
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