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Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 19
innen. Ein Soldat hat seinen Helm auf einem
Sessel abgelegt, an einem Klappstuhl lehnt
eine Kalaschnikow. Hier übernachten Kämp-
fer. Außerdem kommen hier Angehörige der
verschiedenen Truppenteile zusammen:
Neben den Spähern Staryna und Dawydenko
und mehreren Artilleristen einer Mörserein-
heit sind an diesem Nachmittag zwei Infan-
teristen des »Rechten Sektors« da.
Die beiden Männer kämpfen Seite an Sei-
te mit den regulären ukrainischen Einheiten.
Nach wenigen Minuten rücken sie wieder aus,
vorbei an einem nahe der Tür abgestellten
EDM4S: Mit der futuristisch anmutenden
elektronischen Waffe, genannt »Wolken-
wischer«, holen ukrainische Truppen feind-
liche Drohnen vom Himmel.
Letztere seien die größte Bedrohung, weil
sie die russischen Geschütze lenkten, sagt ein
junger Soldat aus der Mörsereinheit. Eine an-
dere Gefahr gehe von russischen Fallschirm-
jägern aus, die sich unbemerkt bewegten,
gerade nachts. Die feindlichen Truppen hätten
zwar mehrfach versucht, die ukrainische Stel-
lung zu stürmen, sagt der Artillerist. »Aber
wir haben all ihre Angriffe abgewehrt.«
Die Mörsereinheit sichert mit ihren Ge-
schützen die Bewegungen von Starynas Späh-
trupps ab. Die Soldaten des Hauptmanns
versorgen die Artillerie mit den Koordinaten
der Gegner. Weil sie sich eng abstimmten,
könnten sie die Angreifer immer wieder emp-
findlich treffen, sagt der Kommandant. Das
Zusammenspiel zwischen den Drohnen sei-
ner Einheit und den Geschützen der Artille-
rie habe zuletzt »ein völlig neues Level« er-
reicht.
Vor acht Jahren schloss sich Staryna der
Armee an. Er hat die ganze Wandlung der
Truppe durchlebt: von einem chaotischen,
von Korruption durchzogenen Haufen hin zu
einem professionellen Heer, das die Ukraine
gegen eine der stärksten Streitmächte der
Erde verteidigt.
Der Hauptmann arbeitete als Insolvenz-
anwalt im dreieinhalb Autostunden westlich
gelegenen Dnipro, als Russland 2014 die Krim
annektierte und im Donbass der Krieg aus-
brach. Nach einer Gerichtsverhandlung mel-
dete er sich bei der Armee und wurde zu-
nächst einer Panzereinheit zugeordnet.
Seit bald acht Jahren kämpft Staryna nun
im Donbass. Er war mittendrin, als sich die
ukrainische Armee und die Separatisten hef-
tige Gefechte um den Flughafen Donezk lie-
ferten. Die Kämpfe um die Terminals über-
stand er unverwundet, als Einziger in seinem
Trupp.
Der 41-Jährige ist geschieden und hat einen
17-jährigen Sohn. Den Jungen, der ebenfalls
Oleksandr heißt, sieht er nicht mehr häufig.
Das sei aber in Ordnung so, scherzt Staryna.
»Er ist jetzt ohnehin in einem Alter, in dem
er mich nicht schnell genug loswerden kann.«
Eine Rückkehr ins zivile Leben werde es
für ihn nicht geben, da ist sich der Hauptmann
sicher. Alle, die über die Jahre an seiner Seite
gekämpft haben, hätten es fernab der Front