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20 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.
nicht ausgehalten. »Hier erleben wir echte
Freundschaft, hier fühlen wir uns geborgen«,
sagt er über das Kampfgebiet. »Im zivilen
Leben sind wir allein.« Starynas Freundin
kämpft in einer anderen Einheit.
Der Krieg gegen Russland ist für den Kom-
mandanten etwas Persönliches, nicht zuletzt
wegen seiner Familie: Seine Mutter stammt
aus der russischen Region Belgorod. Mit zehn
Jahren kam sie in die Ukraine.
Vor 2014, so erzählt es Staryna, bewun-
derte sie den russischen Staatschef Wladimir
Putin, wie viele ältere Menschen im Osten
der Ukraine. Mutter und Sohn stritten sich
deshalb oft. Als sich der heutige Hauptmann
zum Kriegsdienst meldete, überraschte ihn
der Sinneswandel seiner 72-jährigen Mutter:
»Sie gab mir ihren Segen und sagte: ›Jemand
muss diesen Verrückten aufhalten‹«, erinnert
er sich.
Vielleicht hat seine eigene Geschichte den
Hauptmann für eine seiner heutigen Heraus-
forderungen geschult: den Umgang mit jenen
Zivilisten, die trotz allem in Marjinka geblie-
ben sind. Als sich vergangenen Monat ab-
zeichnete, dass Moskau eine Großoffensive
im Donbass starten würde, rief die ukraini-
sche Führung die Menschen dazu auf, die
Region zu verlassen. Die Mehrheit der etwa
9400 Bewohner des Ortes kam dem nach.
Von denen, die geblieben sind, haben einige
im Keller eines Krankenhauses Schutz vor
den Bomben gefunden.
Der Weg dorthin führt durch leere Straßen,
vorbei an kleinen Vorgärten, in denen riesige
Krater klaffen. Unteroffizier Mykola Dawy-
denko läuft wiegenden Ganges stets ein paar
Schritte vor seinem Kommandanten. Wie
Staryna kommt auch der 36-Jährige aus
Dnipro. Er hat einen Vollbart und wache Au-
gen, aus denen er ständig seine Umgebung
mustert. Dawydenko befehligt einen sieben-
köpfigen Spezialtrupp. Seine Missionen füh-
ren ihn oft hinter feindliche Linien. Er ist
Starynas Mann fürs Heikle.
Der Hauptplatz von Marjinka ist fast zer-
stört. Eine goldfarbene Kuppel der Kathe-
drale ist teils weggeschmolzen, ein Kultur-
zentrum abgebrannt. Ein Splitter hat einer
Büste zu Ehren des Nationaldichters Taras
Schewtschenko die rechte Gesichtshälfte
weggerissen. »Sie haben ihn rasiert«, sagt
Staryna.
Nach wenigen Minuten erreichen die bei-
den Soldaten das Krankenhaus, einen vier-
stöckigen Klotz aus gelben Ziegelsteinen. Die
Angreifer haben ein Loch in die Fassade
geschossen, etwas kleiner als ein Fenster –
»Panzer«, sagt Dawydenko gleichmütig.
Hinter dem Gebäude sitzt eine Handvoll
älterer Menschen auf Holzlatten und einem
Leitungsrohr. Die meisten rauchen, in einem
kleinen Kessel kocht Tee. Die Rückseite des
Krankenhauses bietet Schutz vor Bomben aus
dem Separatistengebiet.
Nein, er werde hier nicht weggehen, sagt
der 72-jährige Anatolij, ein pensionierter
Bergarbeiter. »Es ist mein Land, ich bin hier
geboren.« Seit mehr als zwei Monaten schläft
er schon im Bunker unter dem Krankenhaus,
seit Beginn der russischen Invasion. Der Wit-
wer und zweifache Großvater hat erlebt, wie
das Gebäude beschossen wurde; wie andere
Bewohner hier eintrafen, nachdem ihre Häu-
ser abgebrannt waren; wie einer von ihnen
eines Morgens auf sein Fahrrad stieg und dann
im Bombenhagel umkam.
Neben Anatolij hausen 37 andere Menschen
hier. Sie leben von Hilfspaketen, die zwei Poli-
zisten und eine Handvoll Freiwilliger täglich
aus dem nahe gelegenen Kurachowe bringen.
Die meisten Verbliebenen sind ältere Men-
schen, die der Krieg 2014 in der Spätphase
ihres Lebens heimsuchte. Seit Jahren sind sie
Gefechten ebenso ausgesetzt wie der Propa-
gandamaschine des Kreml. Das hat sie miss-
trauisch gemacht, manche bis ins Aberwitzige
hinein.
Ein aufgebrachter Mann fällt Anatolij ins
Wort. Woher die Bomben kämen, sagt er, das
wisse er doch: Sie kämen »aus Krasnohoriw-
ka«. Der Ort ist nur wenige Kilometer ent-
fernt und unter Kontrolle der Regierung in
Kiew. Er wirft den ukrainischen Truppen also
vor, die eigene Bevölkerung zu bombardieren,
wofür es keine Hinweise gibt.
Hauptmann Staryna ignoriert ihn und
steigt in den Keller des Krankenhauses hinab.
Es ist eng und stockdunkel, die Wände sind
dick und an manchen Stellen angeschimmelt.
In zwei Räumen stehen dicht gedrängt Prit-
schen. Nur Kerzenlicht und die Handylampen
der Soldaten beleuchten die bleichen Gesich-
ter von Zivilisten.
»Liebe Leute, ich an eurer Stelle würde
hier verschwinden«, ruft Staryna ihnen ent-
gegen. Der Feind sei noch immer mächtig,
und wenn er weiter vorrücke, werde ihnen
niemand mehr helfen können. Die Appelle
der Soldaten verhallen. Die Menschen im
Keller bitten sie, beim nächsten Mal Sprit für
den Generator mitzubringen.
Werden die russischen Truppen bald vor-
rücken, bis zum Krankenhaus in Marjinka
und noch weiter? Nicht nur die ukrainischen
Soldaten vor Ort zweifeln an einem entschei-
denden Durchbruch von Putins Armee im
Osten.
Staryna bleibt vorsichtig. Trotz ihrer Ver-
luste könne die russische Armee die Vertei-
diger überwältigen, sagt er, vor allem mit ihrer
Artillerie und ihren Kampffliegern. Das weiß
er aus Spähmissionen anderswo an der Front
und aus Gesprächen mit Kommandanten an-
derer Einheiten.
Die russische Walze rollt langsam. Aber
noch rollt sie.
Er und seine Leute hätten alles, was sie für
die Aufklärung brauchten, sagt Staryna, nicht
zuletzt Drohnen und Nachtsichtgeräte. Den
ukrainischen Verteidigern fehlten aber vor
allem zwei Dinge: Munition für ihre Artillerie
und stationäre Raketensysteme für die Flug-
abwehr.
Der Krieg habe sich längst zu einem Ab-
nutzungskampf entwickelt, sagt Oleksandr
Staryna. »Sie sind erschöpft, und wir wissen
das, wir sind erschöpft, und sie wissen das«,
sagt der Hauptmann. Entscheidend sei, wer
zuerst Verstärkung bekomme: die Ukrainer
aus dem Westen? Oder die Russen?
Wer das Rennen gewinnt, könnte dann die
nächste Offensive starten. Und die könnte
den Krieg entscheiden. n
Ortszentrum nach
Raketenangriffen
Verbliebene
Ukrainer
in Marjinka