Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 27

te darauf hinauslaufen, dass sie Armut mit
Armut zu bekämpfen versuchen.
Schon jetzt fließen die Krisen also zusam-
men und verstärken sich gegenseitig. Sie
türmten sich auf, sagte Vizekanzler und Wirt-
schaftsminister Robert Habeck (Grüne) diese
Woche: »Wir werden weiter mit höheren Prei-
sen rechnen und diese als Volkswirtschaft
auch tragen müssen.« Wachsen wird nur die
Zahl der Bedürftigen.
So drängend wie seit langer Zeit nicht mehr
spitzt sich daher die soziale Frage zu. Die Ge-
fahr, dass Millionen Menschen in echte Not
geraten, ist ebenso real wie die Sorge, dass
die Gesellschaft die Spannungen nicht aus-
hält, die dadurch entstehen.
Hat die Regierung einen Plan, um mit die-
ser sozialen Krise fertigzuwerden?
In Nürnberg hat sich vor der Essensaus-
gabe jener Tafel, die nun doppelt so viele
Menschen versorgen muss wie noch vor eini-
gen Wochen, eine lange Schlange gebildet:
am Zaun entlang, auf den Hof, die Treppe
hoch und in die Halle hinein.
An der Essensausgabe steht Peter Fröhlich,
er kocht seit etwa drei Monaten für die Nürn-
berger Tafel: »Es werden immer mehr Leute«,
sagt er. Nicht nur die ukrainischen Geflüch-
teten, auch viele Nürnberger hätten in den
vergangenen Monaten zum ersten Mal zur
Tafel gefunden. Vor allem die Renten reichten
immer seltener, sagt er: »Der Opa hat die
Wahl – entweder frieren oder hungern.«
Unter denen, die Hilfe brauchen, ist Jenni-
fer Piepka, 35, alleinerziehende Mutter, zwei
Kinder, ausgebildete Erzieherin. Seit ein paar
Jahren kommt sie regelmäßig hierher. In den
letzten Wochen ist es für sie noch schlimmer
geworden. Ȇberall wird alles teurer. Ich spen-
de regelmäßig Plasma, um über die Runden
zu kommen. Ich bin froh, dass ich das abkann.«
Die Preise für Tomaten und Gurken sind in
Deutschland seit Anfang 2020 um rund 44
Prozent gestiegen. Sonnenblumenöl und ähn-
liche Öle verteuerten sich um knapp 36 Pro-
zent. Eier kosten nun 20 Prozent mehr. Heiz-
kosten sind explodiert. Benzin kostet beständig
zwei Euro oder mehr, Diesel ist noch teurer.
»Putins Krieg hat uns alle ärmer gemacht



  • und zwar auf Dauer«, sagt Andreas Peichl,
    der am Ifo-Institut zur Vermögensverteilung
    forscht. Doch die Preise sind schon vorher
    geklettert. Der Krieg verschärft eine Lage, die
    schon vorher bedrohlich war, jedenfalls für
    einen Teil der Gesellschaft.
    Für viele Deutsche ist die Inflation allen-
    falls ein Ärgernis. Das oberste Fünftel der
    Einkommen legt nach Berechnungen von
    Ökonom Peichl jährlich rund 25 000 Euro
    zurück. Steigende Preise bedeuten für sie nur,
    dass ihr Erspartes weniger schnell wächst.
    Ganz anders sieht es beim ärmsten Fünftel
    aus. Schon vor den aktuellen Preissteigerun-
    gen gaben diese Haushalte im Schnitt jährlich
    gut 800 Euro mehr aus, als sie hatten. Das
    droht nun auch der nächsthöheren Einkom-
    mensgruppe: Hier liegen die jährlichen Rück-
    lagen nur bei etwa 550 Euro. Diese Summe


dürfte bei vielen allein die höhere Heizkos-
tenabrechnung verschlingen. Haushalte mit
Ölheizung müssen nach einer Schätzung des
Portals Verivox eine Kostensteigerung von
75 Prozent fürchten, das entspräche Mehr-
kosten von rund 780 Euro pro Jahr.
Die Bundesregierung war früh alarmiert.
Noch vor Beginn des Ukrainekriegs stellte die
Koalition zehn Maßnahmen zur Entlastung
vor, in Höhe von mehr als 15 Milliarden Euro.
Unter anderem wurden Steuerfreibetrag und
Pendlerpauschale angehoben, die EEG-Um-
lage abgeschafft, um die Strompreise zu drü-
cken. Empfänger von Transferleistungen soll-
ten einmalig 100 Euro bekommen.
Nur einen Monat nach Kriegsbeginn, Ende
März, folgte das nächste Maßnahmenpaket.
Für jedes Kind in Kindergeld gibt es
100  Euro zusätzlich. Die gleiche Summe be-
kommen Sozialhilfeempfänger. Für drei Mo-
nate sollen die Benzinpreise um 30 Cent und
die Dieselpreise um 14 Cent gesenkt werden,
zugleich soll von Juni bis August der öffentliche
Nahverkehr überall für monatlich neun Euro
genutzt werden können. Alle, die einkommen-
steuerpflichtig sind, sollen zudem 300 Euro
erhalten, versteuert, sodass den Armen davon
alles bleibt und den Reichen weniger.
Der Plan war erkennbar eher politischer
Kompromiss als kohärentes Programm, aber

noch einmal ähnlich teuer wie das erste Paket.
Wieder verteilte die Regierung freihändig
Geld. Noch vor wenigen Jahren hätte das
einen Aufschrei verursacht, in der Zunft der
Ökonomen wie bei wirtschaftsliberalen Poli-
tikerinnen und Politikern. Jetzt urteilte das
Institut der deutschen Wirtschaft Köln nur
knapp: »Die Entlastungen werden die Kauf-
kraftverluste der Bürger lediglich teilweise
auffangen können.« Übersetzt: Sie reichen
nicht.
Andreas Audretsch, Sozialpolitiker der
Grünen-Fraktion, sitzt vor einem Café in Ber-
lin-Kreuzberg. Er erzählt von Menschen aus
seinem Wahlkreis Neukölln, die möglichst viel
Zeit außer Haus verbrachten, um nicht heizen
zu müssen. Der ersten Person, die während
der anderthalb Stunden an den Tisch tritt und
um Geld bittet, wirft er etwas in den Becher.
Der zweiten auch. Für die dritte und die vier-
te hat er keine Münzen mehr. »Es hat sich
schon im Herbst abgezeichnet, dass wir Ent-
lastungspakete brauchen werden«, sagt er.

Mit Geld ist es jetzt aus seiner Sicht aber nicht
getan. Wenn Audretsch über Sozialpolitik
spricht, schlägt er schnell den ganz großen
Bogen. Die soziale Frage steht für ihn neben
der ökologischen Transformation von Wirt-
schaft und Gesellschaft in der Klimakrise und
der internationalen Sicherheitspolitik, als eine
der ganz großen Aufgaben dieser Zeit. Und
alle drei seien nur zusammen zu lösen.
Ansonsten drohe die Gesellschaft ausein-
anderzufliegen. Der Grüne fürchtet das Ra-
dikalisierungspotenzial, das entsteht, wenn
Menschen die Perspektive fehlt. Und da gehe
es nicht nur um akute Armut, sondern auch
um gute Jobs: »Früher glaubten alle, dass ihre
Kinder es einmal besser haben. Jetzt denken
viele, es wird ihnen einmal schlechter gehen.«
Neu ist, dass die akute soziale Not weitere
Bevölkerungsgruppen einholt. Nicht nur jene,
die zur Tafel gehen wie in Nürnberg. Mittler-
weile wird es für Bürgerinnen und Bürger eng,
die bisher mit ihrem Geld irgendwie über die
Runden kamen: Alleinerziehende, Alleinver-
diener, Rentnerinnen, Studenten.
Zum Beispiel für Claudia Tremmer, allein-
erziehende Mutter aus Neuss, die ihren rich-
tigen Namen nicht im SPIEGEL lesen möchte.
Viele der arbeitenden Armen scheuen sich,
öffentlich von ihren Sorgen zu erzählen.
Ihre finanzielle Lage beschreibt Tremmer
knapp so: »Auf Kante genäht.« Als Realschul-
lehrerin in Teilzeit verdient sie zu viel für
Sozialleistungen, aber zu wenig für ein
sorgen freies Leben. Unterhalt vom Vater des
Sohnes bekomme sie nicht. Seit die Preise
unaufhörlich steigen, platzt die Naht langsam
auf.
»Ich komme mit meinem Geld weniger
weit als vorher«, sagt sie. Das Frühstücksgeld
für die Kita ihres sechsjährigen Sohnes wurde
um die Hälfte angehoben, auf jetzt 10 Euro.
Eine Tankfüllung koste 70 bis 80 Euro. Sie
brauche das Auto aber, um ihren Sohn zur
Kita zu bringen und zur Arbeit kommen. »Ich

Ȇberall wird alles teurer.
Ich spende regelmäßig
Plasma, um über die Runden
zu kommen.«
Jennifer Piepka, Alleinerziehende

Belastungsprobe


Ver änderung d er Verbr aucherpr eise geg enüber
dem Vorjahres monat, in Proz ent

2020 2021 2022

−2 0

0

20

40

60

80

100

Heizöl Gas* Strom Nahrungsmittel

+6

+29

+107

+18

* einschließlich Umlage
S Quelle: Destatis; S tand: M ärz
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