DEUTSCHLAND
28 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
habe versucht, auf den ÖPNV umzusteigen,
und war dann mehr als drei Stunden täglich
unterwegs.«
Menschen wie Claudia Tremmer bilden
keine klar abgrenzbare Gruppe. Es gibt kei-
nen Verband der plötzlich existenzbedrohten
unteren Mittelschicht. Deshalb ist es auch
nicht so leicht zu sagen, wie viele von ihnen
schon getroffen sind und wie schwer, weshalb
sie ein für die Politik schwer auszumessendes
Wutreservoir bilden.
Zu allem Überfluss sind diese unsichtbaren
Armen auch noch besonders schwer zu er-
reichen, wenn die Politik Geld verteilen will.
Man kann ihnen nichts über Unterstützungs-
leistungen zurückgeben, wenn sie keine be-
kommen, aber man kann auch ihre Steuerlast
nicht mindern, weil sie ohnehin kaum Steuern
zahlen.
Von der erhöhten Pendlerpauschale etwa
hat Tremmer nichts, das hat sie schon aus-
gerechnet. Also versucht sie, elektrische Ge-
räte weniger zu nutzen, mehr Rad zu fahren,
und sie verkauft alten Besitz bei Ebay weiter.
Den ganzen Tag beschäftige sie sich mit Spa-
ren, sagt sie: »Der Druck steigt.«
Die Sorge in der Regierung ist, dass auch
der gesellschaftliche Druck steigen könnte.
Wenn man mit Koalitionsvertretern spricht
in diesen Tagen, kommen sie auffallend oft
auf Frankreich zu sprechen. Präsident Em-
manuel Macron hat sich bei der Wahl gegen
Marine Le Pen durchgesetzt, aber gut 41 Pro-
zent stimmten in der Stichwahl für seine ra-
dikal rechte Herausforderin. Unter armen
Menschen schnitt sie besonders gut ab, in eher
verarmten Regionen ebenfalls.
Schon die Gelbwestenproteste vor einigen
Jahren, die sich nach einer Spritsteuererhö-
hung herausgebildet hatten, haben die deut-
sche Politik nachhaltig verstört. Die Angst
vor einer ähnlichen Protestbewegung beför-
derte seither eine verdruckste Klimapolitik.
Eine schrittweise Benzinpreiserhöhung um
16 Cent war im Wahlkampf noch ein Aufreger.
Seitdem haben Pandemie und Putin den Sprit
um 50 Cent und mehr verteuert.
Noch blieben größere Proteste aus. Ist die
Angst vor französischen Verhältnissen be-
rechtigt? Oder sind die Unterschiede zwi-
schen den Ländern doch zu gewaltig, in der
Protestkultur, im Parteiensystem?
In Frankreich gibt es eine ungleich stär -
kere radikale Rechte und praktisch keine
konservative Rechte mehr. Dort ist das linke
Lager zersplittert und von Linksaußen ge-
trieben. Hierzulande hat es die AfD noch nie
wirklich vermocht, sich als Kümmererpartei
zu erfinden, und die Linke spielt bundesweit
kaum eine Rolle mehr.
Wenn man Amira Mohamed Ali fragt, die
Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundes-
tag, sagt sie, die Preisexplosion sei »die so-
ziale Frage unserer Zeit«. Sie fordert auch
weitreichende Maßnahmen, eine staatliche
Preisaufsicht, Mehrwertsteuersenkungen:
»Einmalzahlungen reichen nicht aus, es
braucht dauerhafte Erhöhungen von Renten
und Sozial leistungen.«
Wenn die Linke einen Moment Ruhe hat,
dann klingt sie immer noch nach einer Alter-
native für die Gebeutelten. Nur hat sie fast
nie Ruhe, weil sich die Partei in einer schwe-
ren Krise befindet.
Da ist der ewige Zwist großer Teile der
Partei mit Sahra Wagenknecht und der Streit
um die richtige Corona- und Ukrainepolitik.
Zuletzt versetzte ein Sexismusskandal die
Partei in Schockstarre, die Co-Vorsitzende
Susanne Hennig-Wellsow schmiss hin.
Das einstige linke Korrektiv droht in der
politischen Bedeutungslosigkeit zu ver-
schwinden. In einer aktuellen Umfrage liegt
die Linke bei drei Prozent, ein historischer
Tiefstand, mitten in der größten sozialen Kri-
se seit langer Zeit.
SPD und Grüne haben sich als relevante
Kräfte ihres Lagers konsolidiert, das ergibt eine
sehr merkwürdige Lage. Einerseits setzt das
die Regierung unter Druck, selbst die sozials-
te Kraft im Land sein zu müssen. Andererseits
verleiht es dieser Koalition unter ihrem sozial-
demokratischen Kanzler auch große Stärke,
weil die beiden Parteien nicht unmittelbar
Konkurrenz fürchten müssen.
Sie müssen sich allerdings mit Christian
Lindner einigen. Der Finanzminister führt
mit der FDP die einzige Koalitionspartei, die
nicht aus dem linken Lager stammt, und er
versteht sich als oberster Kassenwart der Re-
publik. Für ein weiteres Entlastungspaket
sieht Lindner derzeit keine Notwendigkeit
- und auch keinen finanziellen Spielraum.
Unter den Linken in den Koalitionsfrak-
tionen geht schon lange die Angst um, dass
am Ende Sozialleistungen infrage stehen
könnten, weil Lindner ab nächstem Jahr
unbedingt die Schuldenbremse einhalten will.
Während der Regierungsklausur in Meseberg
Mitte dieser Woche tauschten sich die Regie-
rungsmitglieder kontrovers zur Lage aus.
Kurzfristig hatte die Regierung die Öko-
nomen Michael Hüther und Sebastian Dullien
eingeladen, der eine arbeitgeber-, der andere
gewerkschaftsnah. Beide rieten, sich bei Fi-
nanzhilfen auf untere und mittlere Einkom-
mensschichten zu konzentrieren.
Dullien rechnete vor: Eine Familie mit
zwei erwerbstätigen Eltern und einem
Nettoeinkommen von zusammen 2000 bis
2600 Euro werde um rund 90 Prozent der
gestiegenen Preise entlastet. Ein erfreutes
Raunen ging durch den Raum. Dann seien die
Entlastungspakete ziemlich zielgenau, soll
Finanzminister Lindner nach Teilnehmer-
angaben gesagt haben.
Doch ganz so froh war die Botschaft dann
doch nicht, stellte Dullien klar. Sein Rechen-
beispiel enthalte beispielsweise nur die Ent-
lastung bei den hohen Energiekosten, nicht
für die Lebensmittelpreise.
Die Schlüsse der Anwesenden aus dem
Vortrag könnten unterschiedlicher kaum sein.
Jetzt müsse man wohl eher nach Einsparun-
gen suchen als nach neuen Ideen für weiteres
Geldausgeben, befand FDP-Mann Lindner.
Habeck soll betont haben, dass im Epochen-
bruch doch gewiss alles zur Disposition ste-
he – auch die Schuldenbremse.
Die Kluft zwischen den Ministern zeigt sich in
aller Öffentlichkeit. In der Presse konferenz
in Meseberg kam die Frage nach dem jüngsten
grünen Vorschlag auf, eine Sondersteuer für
übermäßige Gewinne als Folge des Krieges
zu erheben. »Die Abschöpfung von Über-
gewinnen ist noch immer ein wichtiges The-
ma«, sagte Habeck.
Lindners Antwort: »Als für die Steuer-
gesetzgebung fachlich zuständiger Finanz-
minister möchte ich allerdings vor Ideen einer
sogenannten Übergewinnsteuer warnen.« An-
Bedürftige bei Nürnberger Tafel: »Der Opa hat die Wahl – entweder frieren oder hungern«
Dieter Mayr / DER SPIEGEL