Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
DEBATTE

50 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022

wie das Wort »Atomkrieg« oder »dritter Welt-
krieg«. Beide Begriffe werden von russischer
Seite bewusst kommuniziert, um Unruhe bei
uns auszulösen. Ich bin erstaunt, dass wir
immer wieder Szenarien übernehmen, die
Wladimir Putin uns auftischt.
SPIEGEL: Frau Schwarzer, fühlen Sie sich er-
tappt, weil Sie Putins Narrative übernehmen?
Schwarzer: Ich bin es gewohnt, mich in ande-
re Menschen zu versetzen, auch in böse
Menschen. Den 9. Mai wird Wladimir Putin
auch mit 27 Millionen toten Sowjetbürgern
assoziieren, die Deutschland zu verantworten
hat. Das ist kein Narrativ, das Putin sich aus-
denkt ...
Strack-Zimmermann: Stopp! Es geht darum,
was heute aus diesem Tag gemacht wird. Der


  1. Mai ist für Russland mit seinen unvorstell-
    bar vielen Toten – ein Großteil übrigens aus
    der Ukraine, die wie Russland zur Sowjet-
    union gehörte – ein bedeutender Tag.
    Schwarzer: Mich beunruhigt dieses Datum in
    der Tat sehr. Wenn Putin sich und die Welt
    an die Verdienste der Sowjetunion bei der
    Beendigung des Zweiten Weltkrieges erinnert,
    wird er sich als Opfer fühlen. Ich gehe mal
    davon aus, dass Putin, wie alle Täter, nicht
    von sich denkt »Ich bin ein böser Mensch und
    tue gerade mal ordentlich Unrecht«, sondern
    sich im Recht fühlt. Und das wird sich an
    diesem 8. Mai vermutlich steigern.
    SPIEGEL: Der Philosoph Jürgen Habermas hat
    gerade erklärt, wenn man schwere Waffen
    liefern wolle, müsse man auch bereit sein,
    selbst mitzukämpfen. Sind Waffenlieferungen
    also letztlich ein Akt der deutschen Feigheit,
    Frau Strack-Zimmermann?
    Strack-Zimmermann: Herr Habermas ist ein
    kluger Mann, aber auch er kann noch hinzu-
    lernen. Unsere Werte basieren auf dem Völ-
    kerrecht. Und das Völkerrecht besagt, dass
    jede Nation, die überfallen wird, ein Recht
    hat, sich zu verteidigen. Und dass andere Na-
    tionen das Recht haben, die überfallene Na-
    tion zu unterstützen.
    Schwarzer: Ich muss Sie enttäuschen. Sie be-
    rufen sich zwar zu Recht auf das Völkerrecht.
    Leider verletzt der Westen bereits jetzt das
    Völkerrecht, indem wir in unseren Ländern
    Soldaten für den Kampf in der Ukraine aus-
    bilden. Völkerrechtlich gibt es allerdings das
    kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der
    Eskalation eines Krieges zu einem atomaren
    Konflikt in Kauf zu nehmen. Darauf hat auch
    unser Kanzler seinen Eid geschworen. Doch
    wir sind im Begriff, dieses Risiko in Kauf zu
    nehmen. Und Kräfte wie Sie, Frau Strack-Zim-
    mermann, die dafür plädieren, dass wir weiter
    schwere Waffen liefern, steigern dieses Risiko.
    Strack-Zimmermann: Vielleicht darf ich kurz
    aufklären. Ukrainische Soldaten werden seit
    vielen Jahren von der Nato ausgebildet. Das
    ist also kein Novum und tangiert das Völker-
    recht nicht.
    Schwarzer: Lassen wir’s so stehen. Wir wollen
    hier ja nicht übers Völkerrecht streiten ...
    Strack-Zimmermann: Aber das spielt schon
    eine Rolle, eine sehr große Rolle sogar!


Schwarzer: Allerdings. Nach allen Seiten. Aber
Deutschland ist laut Umfragen bei der Frage
der weiteren Lieferung von schweren Waffen
absolut gespalten. Die Hälfte der Bürger teilt
die Position unseres offenen Briefes: »Bitte
nachdenken. Jetzt kein vermeidbares Risiko
eingehen!« Trotzdem wurden wir zunächst
schwer angegriffen und verhöhnt. Aber jetzt
gerät diese unerträgliche Kluft zwischen öf-
fentlicher Meinung und veröffentlichter Mei-
nung ins Wanken. Jetzt kommen endlich auch
mal die Menschen zu Wort, die Bedenken ha-
ben und die sich Sorgen machen: um die Ukrai-
ne, um Deutschland und um die ganze Welt. Es
ist ja kein Zufall, dass unser offener Brief allein
in den ersten vier Tagen auf Change.org von
über 200 000 Menschen unterzeichnet wurde.
Strack-Zimmermann: Ich bin völlig einig mit
Ihnen, dass man bei einem so existenziellen
Thema selbstverständlich unterschiedlicher
Meinung sein kann. Sie sind politisch, ich bin
politisch, wir bewerten es auch politisch. Es
gibt andere, die angefasst sind, weil sie den
Krieg, die Bilder des Schreckens als unange-
nehm empfinden. Manche davon sagen: Die
Ukraine ist weit weg, lasst uns hier unser
Leben leben. Da bin ich dann schon der Mei-
nung, dass man da zumindest eine Meinung
haben sollte, wie auch immer die aussieht.
Schwarzer: Einverstanden. Aber ich will da-
rauf hinweisen, dass es auch in der Ukraine
nicht nur eine Meinung zum Krieg gibt. Ich
hoffe zumindest sehr, dass es auch andere
Stimmen gibt als die des ukrainischen Bot-
schafters in Deutschland, der hier in einer Art
und Weise wütet, die mehr als befremdlich ist.
Mich würden die vielfältigen Stimmen aus der
Ukraine, die uns leider nicht erreichen, sehr
interessieren. Auch zu dem Umstand, dass in
der Ukraine von einem Tag auf den anderen
alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren mo-
bilgemacht wurden und sie das Land nicht
verlassen dürfen. Ich vermute mal, dass drei

Viertel dieser Jungen und Männer in ihrem
Leben noch kein Gewehr in der Hand hatten
und, wenn sie es das erste Mal in die Hand
nehmen, nicht mehr lange leben. Ich finde das
schrecklich. Doch nur weil die Ukraine Leid
erdulden muss, ist nicht alles richtig, was ihre
Führer entscheiden und wollen. Es muss er-
laubt sein, auch das kritisch zu hinterfragen.
Strack-Zimmermann: Das ist schlichtweg das
Gesetz der Ukraine. Und ich werde mir nicht
anmaßen, das in irgendeiner Form zu kom-
mentieren oder zu kritisieren.
SPIEGEL: Außenministerin Annalena Baer-
bock ist mit dem Anspruch gestartet, femi-
nistische Außenpolitik zu betreiben. Wie
sollte eine feministische Außenpolitik ange-
sichts des aktuellen Konfliktes aussehen?
Schwarzer: Die feministische Außenpolitik
zielt auf ein friedliches Miteinander der Men-
schen. Ich bin uneingeschränkt dafür – seit
das Konzept in den Neunzigerjahren ent-
wickelt wurde. Aber ich muss sagen: Dies ist
leider nicht der richtige Moment. Es wäre mir
richtig peinlich als Feministin, jetzt von der
feministischen Außenpolitik zu reden. Ich
wäre ja eine Lachnummer! Dafür werden wir
gerade zu stark von enthemmter Gewalt und
Macht überrollt, es geht um Leben und Tod.
Jetzt schlägt nicht die Stunde der Feministin-
nen, sondern die der Helden. Das ist, glaube
ich, der entscheidende Unterschied zwischen
unseren Argumentationssträngen: Sie reden
von Moral, die ich natürlich selbstverständlich
lebe und vertrete – aber ich rede von Reali-
täten und Machtverhältnissen.
Strack-Zimmermann: Friedrich Merz hätte
große Freude an Ihren Ausführungen. Femi-
nistische Außenpolitik heißt nicht, dass alle
sich lieb haben – Friede, Freude, Eierkuchen.
Feministische Außenpolitik ist die Sicht der
Frau auf Außenpolitik. Und deswegen kann
ich nur sagen, dass die Außenministerin sehr
gut daran getan hat, Herrn Merz auf Massen-
vergewaltigungen im Krieg hinzuweisen.
Schwarzer: Wie unterschiedlich auch unter
Frauen der Blick auf die Welt sein kann, sehen
wir an uns beiden, Frau Strack-Zimmermann.
Aber es wird Ihnen gefallen, dass »Emma« in
den frühen Achtzigerjahren die erste deutsche
Publikation war, die es wagte, über das Tabu
der Massenvergewaltigungen am Ende des
Zweiten Weltkrieges in Deutschland zu spre-
chen. Der Unterschied zwischen uns ist: Sie
reden über Ideale und Illusionen. Ich sage
Ihnen: Sie fahren mit Ihrem Panzer gerade
mit Höchstgeschwindigkeit auf die Katastro-
phe zu. Könnten Sie bitte die Bremse ziehen?
Strack-Zimmermann: Und ich, liebe Frau
Schwar zer, sage Ihnen, ich werde im Namen
dieser Frauen in der Ukraine, die so viel Leid
erleben, die Panzer nicht bremsen, sondern
sie weiterfahren lassen, damit diese Schläch-
tereien ein Ende haben. Wir werden das nicht
mit Worten schaffen, sondern auch mit klarer,
breiter Schulter.
SPIEGEL: Frau Strack-Zimmermann, Frau
Schwarzer, wir danken Ihnen für dieses
Gespräch. n

Umfrage


Waffenlieferungen


Umstrittene Lieferungen


FDP

Grüne

Union

SPD

AfD

insges amt

70

67

53

45

12

45

»Sollte Deutschland Ihrer Meinung nach
schwere Waffen an die Ukraine liefern?«,
Angaben in Prozent, nach Parteipräferenz,
Antwort »Ja«

S◆Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend vom


  1. bis zum 27. Apr.; Befragte: 1314; die statistische Ungenauig-
    keit der Umfrage liegt bei bis zu 3 Prozentpunkten; an 100
    fehlende Prozent: »Nein« oder »unentschieden«

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