Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

6 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.


Der 8. Mai


1945 steht für


das offizielle


Ende eines


verbrecheri-


schen Irrtums.


Die kritische


Selbstbefra-


gung ist seit-


dem der


Auftrag an die


Deutschen.


A


m 8. Mai 1945 befreiten die Alliierten Deutschland
von der Herrschaft der Nazis, der Zweite Weltkrieg
endete in Europa. Über Jahrzehnte vergewisserten
sich die Deutschen an diesem Tag, ob das Vorhaben »Nie
wieder Krieg« noch immer die richtige Lehre aus der
Katastrophe des Weltkriegs ist. Nun aber herrscht Krieg
in Europa. Und Deutschland ist mindestens mittelbar
betroffen.
Obwohl es in diesen Tagen um die von Russland an-
gegriffene Ukraine gehen sollte, ist es zulässig zu fragen,
was der Krieg in Deutschland auslöst. Der ukrainische
Präsident Wolodymyr Selenskyj betont ohnehin, wie viel
von Deutschland abhänge. Aber was Deutschland tut und
was es unterlässt, hängt auch vom Verlauf der Debatten
ab, die hier geführt werden.
Es ist laut in diesen Tagen. Als Kanzler Olaf Scholz
sich dazu durchrang, schwere Waffen an die Ukraine zu
liefern, initiierte die Publizistin Alice Schwarzer einen
offenen Brief, in dem sie das Gegenteil forderte. In der
»Zeit« veröffentlichten dann andere Intellektuelle einen
offenen Brief mit der Forderung, Scholz möge dafür sor-
gen, dass die schweren Waffen so schnell wie möglich
geliefert werden.
Es wäre weder normal noch richtig, wenn ein tiefer Ein-
schnitt wie der jetzige keinen Streit auslöste. Offene Brie-
fe klären Positionen, sorgen für Übersicht, bieten bei Fra-
gen, in denen die Öffentlichkeit gespalten ist, Identifikation.
Doch ein echter Austausch ist damit noch nicht erreicht.
Echter Austausch aber ist fruchtbar. Er muss nicht be-
deuten, die Meinung der jeweils anderen zu übernehmen,
nicht einmal, diese Meinungen ganz zu verstehen. Er
erfordert aber die Bereitschaft, zuzuhören und wenigstens
für einen Moment zu versuchen, sich auf einen Perspek-
tivwechsel einzulassen. Dadurch ergibt sich die Chance,

zu einem Gedanken vorzudringen, auf den man von selbst
nicht gekommen wäre. Daraus können sich gute Ideen
für die Lösung eines Konflikts ergeben, und die braucht
es jetzt.
Wladimir Putin ist ein nicht einzuschätzendes Gegen-
über. Deswegen ist es unmöglich, eine Position zu ihm zu
beziehen, von der man zweifelsfrei behaupten kann, dass
sie sich in aller Zukunft als richtig erweisen wird. Die Lie-
ferung schwerer Waffen ist jetzt sicher richtig. Zugleich
kann aber niemand mit Gewissheit ausschließen, dass
genau das passiert, was die andere Seite befürchtet: eine
weitere Eskalation des Krieges.
Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller bereute nun in
einem Beitrag in der »Süddeutschen Zeitung«, den
Schwarzer-Brief unterschrieben zu haben. Sie fragt sich,
ob der »moralische Furor« des offenen Briefes nur die
eigene Angst »bemänteln soll«. Sie schreibt, es wäre ehr-
licher gewesen, die »Angst zuzugeben«. Der Ansatz von
Lange-Müller bereichert die Debatte um eine wichtige
Komponente: den Blick auf sich selbst, auf Fehler, auf
Irrtümer, auf Angst. Sich der eigenen Angst zu stellen
bedeutet nicht, ihr nachzugeben, sondern überhaupt in
Betracht zu ziehen, dass das eigene Denken und Handeln
von ihr geleitet wird. Es gilt, den richtigen Umgang mit
ihr zu finden, was vernünftiges Handeln überhaupt erst
möglich macht.
Dieser selbstkritische Ansatz ist bisher die Ausnahme:
Die CDU zum Beispiel scheut eine vernehmbare Aus-
einandersetzung mit der Frage, welche Schuld sie an der
verfehlten Russlandpolitik vor Kriegsausbruch trägt, und
schiebt alles auf die SPD. Die ehemalige Kanzlerin der
CDU hüllt sich in Schweigen, was ihrer Verantwortung,
die nicht mit der Amtszeit endet, unangemessen ist.
Der 8. Mai 1945 steht für das offizielle Ende eines ver-
brecherischen Irrtums. Die kritische Selbstbefragung war
danach der Auftrag an die Deutschen. Die Lage ist heute
völlig anders, die Pflicht zur kritischen Selbstbefragung
aber bleibt. Zugleich verbietet es die Lage, in einem
Sowohl-als-auch zu verharren und sich nicht zu ent-
scheiden. Ein Krieg erfordert Handeln, Positionierung,
schnell und klar. Nie wieder Krieg – diese Position hat
Putin zunichtegemacht. Die jetzige Strategie der Regie-
rung, keine Kriegspartei zu werden, aber die Angegrif-
fenen klar zu unterstützen, auch mit schweren Waffen,
ist angreifbarer als die jahrzehntelange Haltung der Deut-
schen: keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern – was
ja auch nicht immer eingehalten worden ist. Eine Lehre
für den jetzigen 8. Mai kann sein, dass es in Ordnung ist,
sich angreifbar zu machen. Die Strategie der Regierung
kann gar nicht glaubhaft eingenommen werden, ohne
dabei die Unabwägbarkeiten zu benennen. Aber gerade
dadurch wird diese Position so stark. Selbstkritik
und Kritik von außen werden der Regierung helfen, ihre
Position nicht zu überdehnen.
Susanne Beyer n

Mut zur Selbstkritik


LEITARTIKEL »Nie wieder Krieg« ist keine zeitgemäße Haltung mehr für Deutschland. Was sich aus den


laufenden Debatten über den Ukrainekrieg für den Gedenktag des 8. Mai lernen lässt.


Jens Bonnke / DER SPIEGEL
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