WIRTSCHAFT
66 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
E
in Stapel Umzugskartons lehnt schon
an der Wand, gleich hinter dem schwar-
zen Ledersofa. Zum Packen hat Yasmin
Fahimi nicht mehr viel Zeit, am Montag soll
die SPD-Politikerin zur neuen Vorsitzenden
des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB)
gewählt werden. Doch ihr Abgeordneten büro
im Bundestag sieht nicht aus, als würde sie es
bald räumen.
Über dem Sofa hängt das große Foto aus
ihrem vergangenen Wahlkampf. Es zeigt Fa-
himi mit Gitarre, eine Zigarette im Mund-
winkel, ganz wie einst Willy Brandt. Hinter
ihrem Schreibtisch prangt ein Porträt des
SPD-Übervaters, daneben eines von Kurt
Schumacher. Und dann ist da noch jene Kiste,
in der die Sozialdemokratin aufmunternde
Briefe von Egon Bahr aufbewahrt – und denk-
würdige Beschimpfungen, die etwa mit »Sehr
verachtenswerte Frau Fahimi« beginnen.
Fahimi nennt ihre Sammlung: Erinnerun-
gen an den Zeitgeist. Vor allem aber handelt
es sich um Erinnerungen an ihre Parteikar-
riere. Fahimi war Generalsekretärin in der
SPD-Zentrale, Staatssekretärin im Bundes-
arbeitsministerium, zweimal direkt gewählte
Abgeordnete. Dass sie ihr Parlamentsmandat
aufgeben wird, sobald sie zur DGB-Chefin
gekürt wird, fällt ihr nicht leicht. Aber es ist
ein Akt der Unabhängigkeit.
Bliebe sie in der SPD-Fraktion, so sieht
sie es, wäre sie künftig nicht frei genug, die
Po litik anzugreifen. Genauer: die Bundes-
regierung oder den Kanzler, den sie Olaf
nennt.
Olaf jedenfalls wird sich auf einiges gefasst
machen müssen. »Ich werde nicht milder mit
dem Kanzler umgehen, bloß weil ich in der-
selben Partei bin«, sagt Fahimi. Und das ist
bei ihr keine Floskel.
Um den DGB-Vorsitz war es in den ver-
gangenen Jahren still geworden. Für Arbeit-
nehmerfunktionäre gab es wenig zu meckern.
Die Kanzlerin mit CDU-Parteibuch hatte sich
sozialdemokratischen Herzensanliegen ver-
schrieben, den Mindestlohn eingeführt und
eine Untergrenze für das gesetzliche Renten-
niveau festgelegt. Der Jobmarkt überstand
dank Kurzarbeit auch die Pandemie ohne grö-
ßere Blessuren. Mit kontroversen Reformvor-
stößen fiel der DGB schon lange nicht mehr
auf. Der Dachverband der Arbeitnehmerver-
treter hatte sich arrangiert, auch die Konjunk-
tur schnurrte zu Jahresbeginn noch. Und als
Fahimi Ende Januar nominiert wurde, war das
allenfalls deshalb interessant, weil sie die ers-
te Frau an der Spitze des DGB sein wird.
Vier Wochen später marschierte Putin in
die Ukraine ein. Nun steht ein Ölboykott
bevor, vielleicht sogar ein Gasembargo. In
Shanghai ruhen die Hafenkräne, weil sich
Omikron auch mit einem harten Lockdown
nicht einfach wie geplant eindämmen lässt.
All das könnte Europas Wirtschaft massiv
schädigen, und mitten in dieser Krise startet
Fahimi in ihren neuen Job.
Die Zeiten sind eine Bürde, für die de -
signierte neue Vorsitzende und für den DGB.
»Es könnte keine schwierigere politische und
wirtschaftliche Situation geben, dieses Amt
zu übernehmen«, sagt Fahimis Vorvorgänger
Michael Sommer, der den DGB von 2002 bis
2014 führte. Die Inflation liege über sieben
Prozent, die Lieferketten drohten zusammen-
zubrechen, und es bestehe die Gefahr eines
ausufernden Krieges. »Ich fürchte inzwischen
ernsthaft, das deutsche Wirtschaftsmodell
könnte scheitern«, sagt Sommer. »In dieser
Lage die Interessen der arbeitenden Men-
schen politisch zu vertreten ist eine gewaltige
Aufgabe.«
In den nächsten Monaten wird viel davon
abhängen, wie sich die Gewerkschaften
verhalten.
Die Preise für Benzin, Heizstoffe oder
Nahrungsmittel fressen die Löhne auf. IG Me-
tall, IG BCE und Ver.di stehen vor der heiklen
Frage, ob sie in ihren Tarifrunden bald kräf-
tige Zuschläge fordern müssen – oder ob sie
die nun lahmende Konjunktur damit vollends
abwürgen. Nicht ausgeschlossen, dass das
Land in eine schwere Rezession schlittert, falls
Putin den Gashahn zudreht. Dann würden es
Fahimi und ihr DGB sein, die mit Arbeit-
gebern und Bundesregierung um neue Mo-
delle für die Kurzarbeit oder Hilfspakete für
die Wirtschaft feilschen müssten.
Fahimi ist für ihre kühle Unerschrocken-
heit bekannt. Es gab in ihrer Zeit im Arbeits-
ministerium Beamte, die hatten vor Sitzungen
mit ihrer Chefin regelmäßig Bammel. Auch
jetzt wirkt sie nicht sehr beeindruckt von den
ökonomischen Aussichten.
Niemand könne voraussagen, welche Aus-
wirkungen der Krieg auf die Wirtschaft habe,
sagt die 54-Jährige in ihrem Büro, Willy
Brandt im Rücken. »Ich neige nicht zu Pessi-
mismus, selbst wenn die Wirtschaft derzeit
nur langsamer wächst – sie ist robust.« Der
Arbeitsmarkt sei stabil, auch dank Kurzarbei-
tergeld und staatlicher Unterstützungsleistun-
gen. Und noch immer, sagt Fahimi, gebe es
an einigen Stellen einen großen Fachkräfte-
bedarf. Kein Anlass also, sich mit Lohnforde-
rungen zurückzuhalten. Im Zweifel geht sie
selbst voran.
Zitat groß
Marginalie
hier wären
fünf Zeilen
sehr schön
Zitat Autor
Best of Klassenkampf
KARRIEREN SPD-Arbeitsmarktexpertin Yasmin Fahimi
soll neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds
werden. Sie wäre die erste Frau an seiner Spitze.
Kanzler Olaf Scholz muss sich auf einiges gefasst machen.
Designierte DGB-
Chefin Fahimi auf Mai-
demonstration
Koppelmann / action press