WIRTSCHAFT
Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 67
Am 1. Mai führt Fahimi in Wolfs-
burg den traditionellen Demonstra-
tionszug der Arbeitnehmer an, ihre
knallrote Jacke ist nicht zu übersehen.
Neben ihr marschiert Volkswagen-
Betriebsratschefin Daniela Cavallo,
von hinten kann man die beiden zier-
lichen Frauen mit den dunklen Haa-
ren kaum auseinanderhalten. »Wir
sehen aus wie Schwestern«, scherzt
Fahimi nach dem Protestzug und
drückt die Kollegin kurz an sich. Der
Unterschied zeigt sich, als sie ans
Mikrofon treten.
Cavallo hält eine nachdenkliche
Rede, berichtet von ihren italieni-
schen Wurzeln und davon, dass Kiew
von Wolfsburg kaum weiter entfernt
sei als Rom, nur rund 1500 Kilome-
ter, und davon, dass in der Ukraine
jetzt auch Gewerkschafter ihr Land
verteidigen müssten. »Daneben wir-
ken unsere Probleme klein und un-
bedeutend.«
Fahimi wird vom Moderator
angekündigt als »besondere Persön-
lichkeit«, die versprochen habe, dem
Kanzler »keinen Schmusekurs« zu
gönnen. Auf der Bühne liefert sie ein
Best of Klassenkampf. Sie fordert
eine Vermögensteuer, ist empört
über die Rekordausschüttungen der
Unternehmen.
»Lasst euch bloß nicht den Unsinn
erzählen von einer Lohn-Preis-Spira-
le«, ruft sie. Die Inflation in Deutsch-
land habe nichts mit der Lohnent-
wicklung zu tun. Wer Zurückhaltung
verlange, der wolle auf dem Rücken
der Beschäftigten die Krise bewälti-
gen. »Das machen wir nicht mit, liebe
Kolleginnen und Kollegen!«
Fahimi tritt schärfer auf, als man-
che Einzelgewerkschaft handelt. Die
meisten großen Lohnrunden begin-
nen erst im Herbst. Und die IG BCE,
aus der auch Fahimi stammt, hat die
laufenden Verhandlungen wegen des
Ukrainekriegs zunächst ausgesetzt
und nur eine Einmalzahlung verein-
bart. Die Lage sei schlicht zu unsicher.
Für die Gewerkschafterinnen und
Gewerkschafter ist der Krieg eine
doppelte Zumutung, nicht nur in
Sachen Lohnpolitik. Sie müssen auch
ihre pazifistischen Traditionen hinter-
fragen. In einem Entwurf für den
Initiativantrag des Bundeskongresses,
auf dem Fahimi gewählt werden soll,
stemmt sich der DGB gegen das ge-
plante 100-Milliarden-Euro Sonder-
vermögen für die Bundeswehr. Eine
Orientierung an abstrakten Summen
sei »nicht sinnvoll« und werde »kri-
tisch beurteilt«, heißt es in dem
Papier, das dem SPIEGEL vorliegt.
Auch eine Verankerung im Grund-
gesetz lehnen die Gewerkschaften ab.
Es folgt ein Appell für eine »allgemei-
ne und weltweit kontrollierte Ab-
rüstung«.
Es ist ein Affront gegen Scholz.
Von Waffenlieferungen halten die
meisten Gewerkschafter ebenfalls we-
nig. Zugleich fordern sie ein Ende des
Krieges. Wie beides zusammen ge-
lingen soll?
Fahimi ist in den Achtzigerjahren
zu den großen Friedensdemonstra-
tionen gepilgert, hat in Bonn und
Hamburg gegen die Aufrüstung pro-
testiert. Viele Gewerkschafter haben
eine ähnliche Sozialisation. Noch im
März schrieb der DGB in einer Re-
solution, er beurteile es »weiterhin
kritisch«, den Rüstungshaushalt
dauerhaft aufzustocken, um das Zwei-
Prozent-Ziel der Nato zu erreichen.
Über die Formulierung gab es lange,
scharfe Debatten.
Einigkeit der acht Einzelgewerk-
schaften unter dem Dach des DGB
herbeizuführen sei ungefähr so
schwierig wie eine Einstimmigkeit in
der Uno-Vollversammlung, erzählen
erfahrene Arbeitnehmervertreter.
Wer den DGB führen will, muss lei-
densfähig sein.
Während Industriegewerkschaften
wie IG BCE oder IG Metall die Trans-
formation mitgestalten wollen und
darauf setzen, mehr Wohlstand zu
erwirtschaften, diskutieren viele
Funktionäre bei der Dienstleistungs-
gewerkschaft Ver.di leidenschaftlicher
darüber, wie man ihn verteilt. Beide
Lager beäugen sich misstrauisch. Und
blockierten sich auch bei der Suche
nach einer neuen DGB-Chefin. Das
höchste Amt wurde über Monate he-
rumgereicht wie eine heiße Kartoffel.
Die DGB-Gewerkschaften leiden
seit Jahren unter Schwindsucht, seit
der Jahrtausendwende ist die Zahl
ihrer Mitglieder von 7,8 auf 5,7 Mil-
lionen geschrumpft. Nur gut ein Drit-
tel von ihnen ist weiblich. Eine Frau
an der Spitze des DGB, so die Hoff-
nung, könne wieder Strahlkraft ent-
wickeln.
Das Vorschlagsrecht hatten die
Metaller, doch ihr Vorsitzender Jörg
Hofmann suchte über Monate glück-
los. IG-Metall-Vize Christiane Benner
zog es vor, in Frankfurt zu bleiben.
Ex-Arbeitsministerin Andrea Nahles
entschied sich für den Chefposten
bei der Bundesagentur für Arbeit.
Auch andere Kandidaten sagten
ab. Weil sich der Prozess quälend hin-
zog, brachte sich der dienstälteste
Gewerkschaftsboss, IG-BCE-Chef
Michael Vassiliadis, am Ende selbst
ins Spiel. Da regte sich Widerstand
bei den Kollegen von Ver.di, denen
der Chemiemann zu progressiv und
zu selbstbewusst ist.
Nach Rücksprache mit Vassiliadis
schlug Hofmann schließlich eine lang-
jährige Gewerkschafterin mit Migra-
tionsgeschichte vor, deren Podcasts
und Interviews zum Arbeitsmarkt
gestandene Gewerkschafter begeis-
tert an Kollegen weiterleiten: Fahimi.
Auch Ver.di konnte nicht mehr wider-
sprechen.
Die Kandidatin für den DGB-Vor-
sitz wurde einstimmig nominiert. Bis
heute allerdings können sich ihre
Gegner einen Hinweis nicht verknei-
fen: »Sie wissen aber schon, dass Yas-
min Fahimi die Lebensgefährtin von
Vassiliadis ist?«
Jeder in der Gewerkschaftswelt
weiß das. Vassiliadis und Fahimi gin-
gen immer offen damit um, dass sie
seit Jahren ein Paar sind. In ihrer Sicht
wäre es antiquiert, sollte der Lebens-
partner ein Hinderungsgrund für
einen Karrieresprung sein. Als das
»Manager Magazin« neulich von Vas-
siliadis wissen wollte, ob die Kern-
fragen der Gewerkschaftsbewegung
künftig am Frühstückstisch bespro-
chen würden, antwortete der IG-
BCE-Chef: »Dass wir die Zeit finden,
in Ruhe gemeinsam zu frühstücken,
darauf warte ich schon lange.«
Wie es sein wird, künftig als DGB-
Vorsitzende Runden zu leiten, in
denen auch der eigene Partner sitzt?
Fahimi sagt dazu: »Für ihn ist das eine
größere Herausforderung als für
mich. Mein Job wird es sein, den La-
den zusammenzuhalten.«
Wie tief ihre Biografie in der In-
dustrie wurzelt, kann man noch im-
Schwund an
der Basis
DGB-Mitglieder,
in Millionen
S◆Quelle: DGB
2000 2021
0
2
4
6
8
5,7
7,8
Politikerin Fahimi
auf Wahlkampfplakat
2021: »Lasst euch
bloß nicht den Unsinn
erzählen von einer
Lohn-Preis- Spirale«
Denis Lochte