WIRTSCHAFT
68 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
mer hören, wenn Fahimi eine Ansprache be-
ginnt: »Ich sach erst mal: Sehr geehrter Herr
Oberbürgermeister.«
13 Jahre lang hat die Diplom-Chemikerin
als Gewerkschaftssekretärin für die IG BCE
gearbeitet, davon lange in Recklinghausen.
Mit Anfang dreißig betreute sie die Jugend
und die Gewerkschaftsmitglieder im Chemie-
park Marl, der heute zu Evonik gehört, und
die Schachtanlagen der Zeche Auguste Vic-
toria, wo man von den Kumpels nur ernst
genommen wurde, wenn man mit ihnen in
den Schacht einfuhr.
»Ich hatte immer viel Sympathie für die
Kultur der Kumpel unter Tage«, erzählt Fa-
himi. »Da gab es gelebte Solidarität, eine be-
eindruckende Disziplin und einen bewegen-
den Stolz auf die Arbeit.« Ihre Reden beendet
sie noch immer mit »Glück auf«, auch am
vergangenen Donnerstag war das so, als sie
zum letzten Mal am Rednerpult des Bundes-
tags stand.
Fahimi hat gelernt, wie ein Chemieunter-
nehmen tickt und was es bedeutet, wenn gan-
ze Branchen wie der Steinkohlebergbau ver-
schwinden. Und so kommt es, dass es einen
entscheidenden Punkt gibt, bei dem die de-
signierte DGB-Vorsitzende mit dem Bundes-
kanzler vollkommen einig ist: Beide sperren
sich noch gegen ein völliges Energieembargo
gegen Russland.
»Ein komplettes Gasembargo wäre ein
enormer und nachhaltiger Schaden für die
deutsche Wirtschaft«, sagt Fahimi. »Es geht
nicht darum, sich ein bisschen einzuschrän-
ken, die Produktion etwas herunterzufahren
oder eben mit einer Rezession zu leben. Wir
reden davon, dass industrielle Anlagen zer-
stört werden und möglicherweise ganze Bran-
chen verschwinden könnten.« Und dann rat-
tert Fahimi eine Reihe von Sparten herunter,
die es besonders hart träfe: Zement, Glas,
Aluminium, die chemische oder die Nah-
rungsmittelindustrie.
Ob die Kollegen von Ver.di diese Angst
teilen? Fahimi kann da keinen Widerspruch
erkennen. »Wir sollten nicht unsere indus-
triellen Basisstrukturen und damit unsere
Wirtschaftskraft gefährden. Das holen wir nie
wieder zurück.« Und man werde einen langen
Atem auch bei den Hilfen für die Ukraine
brauchen.
Dass Fahimi am nächsten Montag gewählt
wird, ist so gut wie sicher. Gegenkandidaten
gibt es nicht. Offen bleibt, wie breit die Unter-
stützung für sie ausfallen wird. »Ich wünsche
ihr ein starkes Ergebnis«, sagt Volkswagen-
Betriebsratschefin Cavallo.
Die Latte liegt nicht allzu hoch. Als Fahimis
Vorgänger im Jahr 2018 zur Wiederwahl
anstand, erhielt er magere 76,3 Prozent der
Delegiertenstimmen. Das Ergebnis galt als
Klatsche.
Sozialdemokrat Reiner Hoffmann, so der
Vorwurf in Gewerkschaftskreisen, habe sich
nicht genug von der SPD distanziert. Fahimi
hat daraus gelernt.
Cornelia Schmergal n
»Wir hätten nicht nach
Deutschland
zurückkehren sollen«
LIEFERDIENSTE Niklas Östberg, 42, Chef von Delivery Hero, über den
Absturz des Dax-40-Unternehmens an der Börse, das Hin und
Her in seiner Strategie und die Frage, warum Lieferdienste selbst in
Quarantänezeiten kein Geld verdient haben
SPIEGEL: Herr Östberg, wie fühlt es sich an,
ein Rekordhalter zu sein?
Östberg: Von welchem Rekord sprechen wir?
SPIEGEL: Delivery Hero hat innerhalb kürzes-
ter Zeit mehr als zwei Drittel seines Werts
eingebüßt. Die letzte Dax-Firma, deren Kurs
so stark gesunken ist, war Wirecard.
Östberg: Die komplette Branche hat an der
Börse viel an Wert verloren, das gilt nicht nur
für Delivery Hero. Es ist eine offene Frage,
wie profitabel Lieferdienste sein können. Ich
bin da naturgemäß zuversichtlich. Aber ich
verstehe auch, dass unsere Investoren zuerst
Ergebnisse sehen wollen, bevor sie es glauben.
SPIEGEL: Waren Sie schockiert, dass es so
schnell bergab ging?
Östberg: Ich war überrascht, weil unser Ge-
schäft so gut läuft. Allein im vergangenen
Quartal sind wir um 52 Prozent gewachsen,
alles schien gut. Nur der Aktienkurs ging
komplett in die andere Richtung. Das Umfeld
ist schlecht: Wir haben im Moment hohe Zin-
sen und Inflation, in der Ukraine herrscht
Krieg.
SPIEGEL: Mit Verlaub, Ihre Investoren sorgen
sich nicht um die Ukraine, sondern um Ihr
Geschäft. Selbst während der Corona-Lock-
downs, als die ganze Welt zu Hause saß und
Pizza bestellte, verdienten Sie mit Ihren Lie-
ferungen kein Geld.
Östberg: Wir haben diese Erwartungen auch
nie geweckt. Wir wollten während der Lock-
downs Neukunden gewinnen und haben des-
halb erst recht investiert. Und zum jetzigen
Zeitpunkt machen alle Lieferunternehmen
Verluste – da sind wir nicht schlechter als an-
dere, im Gegenteil. Wir sind auf dem besten
Weg, am profitabelsten von allen zu werden.
SPIEGEL: Kann es sein, dass Corona Ihre beste
Hoffnung auf ein funktionierendes Geschäfts-
modell war und diese Gelegenheit nun ver-
strichen ist?
Östberg: Nein, wir haben sie nämlich fantas-
tisch genutzt. Wir wurden größer und besser,
wir haben die Marktführung übernommen.
Aber natürlich mussten wir in Rekordge-
schwindigkeit Werbekampagnen auf die Bei-
ne stellen, damit die Leute wirklich bei uns
bestellen, wenn sie in Quarantäne sind – und
nicht bei der Konkurrenz. Jetzt wird sogar
noch häufiger bestellt als vor der Pandemie.
SPIEGEL: Ihr CFO machte in einem Interview
auch die deutsche »Neidkultur« für den Bör-
senabsturz verantwortlich. Das ist nicht ernst-
haft Ihre Position?
Östberg: Nein, und er hat niemandem die
Schuld gegeben. Er meinte, dass es in Deutsch-
land eine Grundskepsis in Bezug auf Techno-
logieunternehmen gibt, die zwar wachsen,
aber noch keine Gewinne machen. Ohne ech-
ten Cashflow ist man hier kein echtes Unter-
nehmen. Damit muss man leben lernen.
SPIEGEL: Sie wurden viele Jahre lang mit
Milliarden überschüttet, obwohl Sie kein Geld
verdienten. Wäre es vielleicht klüger gewesen,
sich früher um Gewinne zu kümmern?
Östberg: Nein. Wir haben das getan, was man
in einem Wachstumsmarkt tun muss: Wir
haben um Kunden gekämpft, wir wollten die
Führung übernehmen. Und im Großteil der
Länder, in denen wir aktiv sind, haben wir
das geschafft.
SPIEGEL: Von außen betrachtet sah Ihre
Unternehmensführung eher nach strategi-
schem Slalom aus. 2019 haben Sie den deut-
schen Markt nach einer milliardenschweren
Marketingschlacht verlassen, nur um zwei
Jahre später wieder zurückzukommen. Sie
plakatierten Städte mit »Foodpanda«-Logos
zu, verkündeten Pläne für die nächsten 15
Jahre – und waren ein paar Monate später
schon wieder weg.
Östberg: Mit Blick auf unsere Investitionen
haben wir alles richtig gemacht. Das mag
nicht für jede unternehmerische Entschei-
dung gelten, aber man muss auch mal Dinge
ausprobieren. Manchmal funktioniert es,
manchmal nicht. Zu dem Zeitpunkt, als wir
uns dazu entschlossen haben, war es die rich-
tige Entscheidung. Rückblickend hätten wir
wohl nicht nach Deutschland zurückkehren
sollen.