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8 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.
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er 9. Mai 2022 – was hätte das für eine
Siegesfeier werden sollen! Man stelle
sich vor: Wladimir Putin begrüßt auf
dem Roten Platz die siegreich heimkehrenden
Truppen. Die Ukraine ist als Staat zerschla-
gen, ihre Hauptstadt Kiew im Handstreich
eingenommen, ihre Regierung geflohen. Mit
dem Erfolg der Waffen feiert Russland auch
seinen Herrscher, der kühn in den Lauf der
Geschichte ein gegriffen hat. Es ist die größte
Feier seit jener Parade von 1945, mit der Sta-
lins Armee den Sieg über den Nationalsozia-
lismus beging.
So in etwa, das kann man nach den ver-
gangenen Monaten vermuten, war Putins
Plan. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Am
- Mai wird Russland zwar wieder den Tag
des Sieges mit einer Militärparade feiern, so
wie jedes Jahr, aber eine gedemütigte Armee
wird über den Roten Platz ziehen. Zweiein-
halb Monate nach dem Überfall auf die Ukra-
ine sind Russlands Streitkräfte nicht mehr die
gefürchtete Macht, die sie einst waren.
Putins Truppen haben in der Ukraine ein
militärisches und moralisches Fiasko erlebt.
Schlecht geführt, schlecht versorgt, schlecht
motiviert und schlecht ausgerüstet, sind sie
an einem vermeintlich weitaus schwächeren
Feind gescheitert. Ihre Positionen vor der
Hauptstadt Kiew mussten sie räumen. Aus
einem geplanten Blitzkrieg ist ein zähes Rin-
gen geworden, ein Abnutzungskrieg.
Russlands militärischer Stolz hat sich in Tei-
len als Attrappe herausgestellt, wie jene Dorf-
kulissen, die der Höfling Fürst Grigorij Potemkin
einst angeblich für seine Zarin aufstellte, um ihr
die Besiedlung leerer Gebiete vorzutäuschen.
Und das ist ebenso überraschend wie ver-
heerend für das System, das Putin aufgebaut
hat. Jahrelang hat der Mann im Kreml seinen
Staat auf eine große Auseinandersetzung mit
dem Westen vorbereitet – militärisch, ökono-
misch, politisch. Maximale Souveränität und
Eigenständigkeit sind sein erklärtes Ziel, Russ-
land soll ein unabhängiger Machtpol in der Welt
sein. Nun stellt sich heraus: Die hochgerüstete
Armee kann das ärmere Nachbarland nicht über-
rennen. Russlands Wirtschaft – abhängig von
Importen. Der Großteil seiner gewaltigen Wäh-
rungsreserven – blockiert durch westliche Sank-
tionen. Seine Geheimdienste – nicht fähig oder
willens, den Herrscher korrekt zu informieren.
Probe für Militärparade auf der Moskauer Twerskaja-Straße im April
Wladimir Potemkin
RUSSLAND Die Welt hat Putins Macht lange überschätzt: Seine Armee ist viel schwächer
als gedacht, seine Geheimdienstler haben versagt, die Sanktionen
beginnen zu wirken. Die große Frage ist: Macht ihn der Misserfolg noch gefährlicher?