Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


82 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


D


er Frieden machte Valtteri Lindholm
zum Millionär, nun rüstet er sich für
den Krieg. Lindholm betreibt am Stadt-
rand von Helsinki den Armeeshop Varuste-
leka, ein 4000 Quadratmeter großes Geschäft
für Leute, die ihr Land verteidigen oder zu-
mindest in Flecktarn zum Angeln wollen. Es
gibt Kampfmesser, Tarnnetze, Parkas und
Nachtsichtgeräte – vieles aus Restbeständen
der Bundeswehr. Seit fast 20 Jahren stattet
Lindholm seine Kunden in Finnland und dem
Rest der Welt aus, inzwischen sei sein Laden
der größte auf dem Kontinent, sagt er. Lind-
holm verdiente Geld mit der Vorbereitung
auf einen Ernstfall, von dem er glaubte, dass
er nie kommen würde.
Er trägt an diesem Vormittag ein graues
Hemd, Jeans und Lederstiefel und einen rot-
blonden Vollbart, die Hemdsärmel hat er über
seine tätowierten Unterarme hochgekrem-
pelt. In den vergangenen Wochen, erzählt er,
habe er Tausende Schutzwesten und militä-
rische Erste-Hilfe-Pakete in die Ukraine ge-
liefert. Das Geschäft läuft ausgezeichnet.
Auch in Finnland steigen seine Verkaufszah-
len. Der März sei sein umsatzstärkster Monat
seit Firmengründung gewesen.
Lindholm ist 40 Jahre alt, verheiratet und
betont, dass er Start-up-Gründer sei, kein
Kriegstreiber. Er liefert, was der Markt be-
nötigt, und hat es verstanden, Flecktarn als
Lifestyle zu etablieren. Als Werbe-Gag spon-
serte er vor ein paar Jahren einen Science-
Fiction-Film, in dem Nazis heimlich den
Mond besiedeln. Die Mischung aus Comedy
und Camouflage traf ein finnisches Lebens-
gefühl. 80 Prozent seiner Kunden, sagt Lind-
holm, seien Männer unter vierzig. Nun aber,
nach Beginn des russischen Angriffs auf die
Ukraine, ist das Spiel vorbei. Finnland hat
eine 1340 Kilometer lange Grenze zu Russ-
land, die Bedrohung liegt nicht weit entfernt.
Valtteri Lindholm fordert, dass sein Land der
Nato beitritt, und zwar möglichst schnell.
Noch am 24. Februar veröffentlichte er
einen offenen Brief an die finnische Premier-
ministerin Sanna Marin. »Verehrte Frau Pre-
mierministerin«, schrieb er, »wir haben nichts
mehr zu verlieren, wenn wir der Nato beitre-
ten. Unser Land benötigt Führung.« Tausende
teilten den Brief im Netz, Lindholm hatte die
Stimmung seiner Landsleute früh erkannt.


68 Prozent der Finnen befürworten laut
einer aktuellen Umfrage einen Nato-Beitritt
ihres Landes, nur 12 Prozent sind dagegen.
Noch vor fünf Jahren war die Stimmung fast
umgekehrt, die Mehrheit der Menschen war
gegen eine Nato-Mitgliedschaft. Der Ukraine-
krieg, so scheint es, hat die Haltung der Fin-
nen zu ihrem östlichen Nachbarn radikal
verändert.
Seit dem Zweiten Weltkrieg war das Land
auf Druck Moskaus politisch neutral und
außerhalb der Nato. Irgendwann gewöhnten
sich die Finnen an die aufgezwungene Neu-
tralität, nach Ende des Kalten Krieges hoffte
man auf Aussöhnung. Auch wenn seitdem
Soldaten nach Afghanistan geschickt und US-
Kampfjets gekauft wurden, blieb das Verhält-
nis zum direkten Nachbarn ein unnormales.
Nun könnte Finnland bereits kommende
Woche gemeinsam mit Schweden einen Bei-
tritt beantragen. Es wäre die größte sicher-
heitspolitische Zäsur seit Jahrzehnten. »Bis
vor Kurzem war das undenkbar«, sagt Char-
ly Salonius-Pasternak, Analyst beim Finni-
schen Institut für internationale Angelegen-
heiten, einem Thinktank, der unter anderem
die Regierung berät. Salonius-Pasternak muss
es wissen. Als er 2009 seine Landsleute da-
ran erinnerte, dass sie in Afghanistan längst

mit der Nato in einem Kriegsgebiet agierten,
wurde er scharf angegriffen. Der damalige
Außenminister Alexander Stubb, heute selbst
Befürworter einer schnellen Nato-Annähe-
rung, distanzierte sich öffentlich von dem
Politikwissenschaftler. Inzwischen gehört die
Forderung nach einer militärischen Zusam-
menarbeit mit anderen Staaten zum politi-
schen Mainstream.
Für Moskau wäre ein finnischer Nato-Bei-
tritt eine empfindliche Niederlage. Russlands
Präsident Wladimir Putin hat in den vergan-
genen Monaten immer wieder klargemacht,
dass er den Einfluss des Militärbündnisses
zurückdrängen möchte, auch sein Außen-
minister Sergej Lawrow hat die nordischen
Länder vor einem Beitritt gewarnt. Nun rückt,
falls Finnland beitritt, die Nato direkt an die
russische Grenze heran. Erst vergangene
Woche sagte Lawrow, die Nachbeben des
Ukrainekriegs könnten zu einem dritten Welt-
krieg führen: »Die Gefahr ist ernst, sie ist real,
sie darf nicht unterschätzt werden.«
Solche Drohungen scheinen in Finnland
kaum noch zu wirken. »Ich bin froh, dass wir
nicht so wie Deutschland geworden sind«,
sagt Valtteri Lindholm. Er meint damit den
gut gelaunten bis naiven Pazifismus der Deut-
schen. Dass er selbst nie gedient hat, schiebt
er auf sein pazifistisches Elternhaus. Seinen
Söhnen werde er ganz sicher empfehlen,
Wehrdienst zu leisten. »Meine Generation
war naiv.«
Die erzwungene Neutralität war in Finn-
land nie eine Ausrede für Untätigkeit oder
Abrüstung. Im Gegensatz zu vielen anderen
EU-Staaten gilt in Finnland weiter eine Wehr-
pflicht. Anschließend werden Reservisten
jahrelang weiter ausgebildet. Bis heute ent-
scheiden sich 70 Prozent aller jungen Männer
für den Wehrdienst, viele verbindet er fürs
Leben. Im Ernstfall kann das Fünf-Millionen-
Einwohner-Land kurzfristig 280 000 Männer
und Frauen mobilisieren, langfristig mehr.
Das finnische Militär dürfte der Nato mindes-
tens ebenso viel nutzen wie umgekehrt.
Valtteri Lindholm sagt, er habe nie Angst
vor dem Kämpfen gehabt. Die Idee zu seinem
Shop kam ihm bei Airsoft-Turnieren mit
Freunden, einem Geländespiel, bei dem man
aus realistisch aussehenden Waffen mit Plas-
tikkugeln auf Gegner feuert. Es ist der per-
fekte Sport für ein Land, das den Frieden
schätzt, aber den Krieg nicht vergessen kann.
Für Lindholm und seine Generation ist der
Nachbar keine Weltmacht mehr, vor der man
sich fürchten muss, sondern ein korrupter
Scheinriese. Er habe immer wieder mit Rus-
sen zusammengearbeitet, sagt Lindholm.
Angst habe er dabei nicht empfunden, großes
Vertrauen aber auch nicht. Die Furcht vor
Russland erinnere ihn bisweilen an nordische
Mythologien. In der Geschichte Finnlands,
sagt er, seien Bären gottgleiche Tiere gewesen.
Um ihren Zorn nicht unnötig zu erregen, hät-
ten die Ahnen schließlich zahlreiche Um-
schreibungen gefunden. Ähnlich sei es die
vergangenen 80 Jahre mit Russland und der

Moskau

Staatsgrenze
Finnland/Ru ssland,
1340 km
FINN-
LAND RUSSLAND
Helsinki Sankt Petersburg

Imatra

Kaliningrad

Neuer Eiserner Vorhang?


Nato-Mitgliedstaaten in Europa

SKarte: OpenStre etMap

Wer den Bären weckt


FINNLAND Jahrzehntelang war das Land mit einer 1300 Kilometer langen


Grenze zu Russland politisch neutral, jetzt könnte es der Nato beitreten.


Der Ukrainekrieg hat das letzte Vertrauen in den großen Nachbarn


zerstört – und weckt in der finnischen Gesellschaft tief sitzende Ängste.

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