Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 9

Ist Putins Machtsystem selbst ein Potem-
kinsches Dorf, ohne dass die Welt – inklusive
Wladimir Putin selbst – das gemerkt hat? Was
bedeutet es für dieses System, wenn es plötz-
lich schwach erscheint? Und wird es dadurch
gefährlicher?
Eine Autostunde westlich von Moskau
liegt ein Lieblingsprojekt des russischen Ver-
teidigungsministers Sergej Schoigu: der Ar-
mee-Freizeitpark »Patriot«. Man kann dort
mit Spielzeugpanzern fahren und mit echten
Kalaschnikows schießen, nachgestellte Ge-
fechte des Zweiten Weltkriegs verfolgen und
Armee-Souvenirs kaufen. Seit 2020 gibt es
dort auch eine von Schoigu mitentworfene


Kirche in Olivgrün – die »Hauptkirche der
russischen Streitkräfte«. Haushohe Mosaiken
zeigen Russlands Waffensiege durch alle Jahr-
hunderte, bis hin zur Annexion der Krim 2014
und zu Russlands Intervention in Syrien.
Auch ein Mosaik mit Putin und Schoigu und
der politischen Elite des Landes war zunächst
geplant. In der Unterkirche erlaubt ein ge-
räumiges Taufbecken das Taufen ganzer Kom-
panien, in die Treppenstufen sind Beutewaf-
fen der Wehrmacht eingeschmolzen worden.
Die Einweihung der Kirche steht für das
neue Ansehen, das die Armee während Putins
Herrschaft erworben hatte – auch dank dem
Ehrgeiz von Verteidigungsminister Schoigu.

Er verlieh dem Militär Glanz, neues Selbst-
bewusstsein, Status in der Gesellschaft. Er
gab der Armee nicht nur ihre Kirche, sondern
schneidige neue Uniformen, eine Jugendorga-
nisation (»Junarmija«), Politoffiziere für die
ideologische Schulung wie zu Sowjetzeiten.
Mit unangekündigten Großmanövern hielt er
die Truppe geschäftig. Russlands Luftwaffen-
einsatz in Syrien konnte man sich als patrio-
tischen Film im Kino anschauen.
Mit dem Überfall auf die Ukraine ist die
Fassade eingestürzt. Zum Vorschein gekom-
men sind geradezu bizarre Missstände. Erst
diese Woche wurde ein heimlich aufgezeich-
netes Gespräch bekannt, in dem Zeitsoldaten
aus dem Kaukasus aufzählten, was bei ihnen
alles falsch lief. Die Männer waren Ende März
auf eigene Faust heimgekehrt nach Südosse-
tien, ein faktisch von Russland kontrolliertes
Gebiet auf dem Territorium Georgiens. Im
Gespräch mit dem Republikoberhaupt be-
klagten sie sich über Schützenpanzer, die
nicht anspringen; Panzer, die nicht schießen;
Offiziere, die sich aus Angst vor ihren Sol-
daten verstecken; Artillerie, die ihre Ziele um
zwei Kilometer verfehlt; Verwundete, die
nicht versorgt werden. Informationen, Kar-
ten, Funkgeräte fehlen, die Granatwerfer sind
verbogen. Südossetiens Präsident tadelte die
Männer und fragte, ob sie etwa glaubten,
Russland werde diesen Krieg verlieren. »Ja,
das glauben wir«, kam es zurück.
Wie viele Russen in der Ukraine wirklich
gefallen sind, verschweigt man in Moskau
lieber, die letzten offiziellen Angaben sind
rund eineinhalb Monate alt. Die britische Re-
gierung sprach im April von 15 000 getöteten
Soldaten, der ukrainische Generalstab nennt
knapp 25 000. Die Russen hätten an die 1000
Panzer verloren, schätzt ein Militäranalyst in
Brüssel. Mindestens sieben russische Gene-
räle sind gefallen. Das Flaggschiff der russi-
schen Schwarzmeerflotte, der Lenkwaffen-
kreuzer »Moskwa«, sank, offenbar nach
einem Beschuss mit Antischiffsraketen.
Vor allem die ersten Tage des Überfalls,
als die russische Armee auf die ukrainische
Hauptstadt vorstieß, verblüfften westliche
Analytiker. »Die strategischen Fehler sind
vollkommen wahnsinnig«, sagte damals schon
John Spencer dem SPIEGEL, Experte für urba-
ne Kriegsführung am Thinktank Madison
Policy Forum. Mittlerweile sind sich viele Be-
obachter einig, dass das russische Militär
überschätzt wurde.
Eine der sichtbarsten Schwächen: die Lo-
gistik. Überdehnte, schlecht gesicherte Nach-
schubwege waren vor allem in den ersten
Kriegswochen einfache Ziele für kleine, mo-
bile ukrainische Einheiten. Ein US-Offizieller
sagte wenige Tage nach Kriegsbeginn, dass
70 Prozent der russischen Streitkräfte bald
keinen Treibstoff und Essen mehr hätten oder
ihnen beides schon jetzt ausgegangen sei.
Eklatante Mängel zeigen sich auch in der
Wartung des Geräts – eine Folge von Schlen-
drian oder Korruption: Teure Flugabwehr-
APsysteme bleiben stecken, weil ihre Bereifung
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