Nr. 19 / 7.5.2022DER SPIEGEL 93
»Viele ziehen von Arzt
zu Arzt«
CORONA Der Neurologe Christoph Kleinschnitz, 48,
vom Universitätsklinikum Essen über die Ursache von
Long Covid und unseriöse Therapieversuche
SPIEGEL: Herr
Professor Klein-
schnitz, am Uni-
versitätsklinikum
Essen gibt es seit
2020 eine Ambu-
lanz für Men-
schen, die nach
einer überstandenen Covid-
19-Erkrankung von Müdigkeit
und verminderter Leistungsfä-
higkeit berichten. Dort wurden
inzwischen mehr als 500 Pa-
tienten behandelt. Was ist die
Ursache dieser Beschwerden?
Kleinschnitz: In den aller-
meisten Fällen haben wir keine
organischen Auffälligkeiten
gefunden. In unserer Ambulanz
untersuchen wir auch die see-
lische Verfassung der Menschen
mit standardisierten Tests. Da
haben wir herausgefunden, dass
sich viele Beschwerden psycho-
somatisch erklären lassen.
SPIEGEL: Erwarten die Patien-
ten, wenn sie zu Ihnen in
die Ambulanz kommen, eine
organische Erklärung für ihre
Beschwerden?
Kleinschnitz: Wenn jemand
eine Vielzahl an Symptomen
hat, und niemand kann sie sich
trotz intensiver Suche schul-
medizinisch erklären – dann ist
die Sehnsucht nach einer
organischen Ursache der Dia-
gnose oft besonders groß.
SPIEGEL: Wie gehen die Patien-
ten damit um, wenn diese Sehn-
sucht nicht erfüllt wird?
Kleinschnitz: Viele von ihnen
ziehen von Arzt zu Arzt.
Und sie sind sehr empfänglich
für alle erdenklichen diagnosti-
schen Verfahren, selbst falls
sie aus eigener Tasche bezahlt
werden müssen. Wenn sie
irgendwelche Antikörper im
Blut bestimmen lassen oder die
Durchblutung am Auge messen,
wenn sie Spezialuntersuchun-
gen der Lunge machen oder ihr
Gehirnvolumen ausmessen
lassen, kann das teuer werden.
SPIEGEL: Gegen Long Covid
wird inzwischen die Blutwäsche
angeboten.
Kleinschnitz: Die Blutwäsche
ist ein bewährtes Verfahren
in der Neurologie, etwa bei Pa-
tienten mit Multipler Sklerose;
man filtert bekannte schädliche
Stoffe aus dem Körper. Bei
Long Covid dagegen sehe
ich keine Indikation. Man will
vermeintliche Entzündungs-
botenstoffe sowie winzige Blut-
pfropfen auswaschen. Aber
dass diese Dinge bei Long Co-
vid eine Rolle spielen, ist völlig
unbewiesen.
SPIEGEL: Wie erklären Sie es
sich, dass die Blutwäsche den-
noch beliebt ist?
Kleinschnitz: Die vermeintliche
Wirkung beruht wohl auf dem
Placeboeffekt. Sie hält offenbar
auch nicht immer lange an,
in unserer Ambulanz haben wir
verschiedene Menschen gese-
hen, denen es ein paar Wochen
nach einer Blutwäsche wieder
so schlecht ging wie vorher. Da-
für sind sie aber ärmer. Eine
Frau hat mir gerade heute
erzählt, dass sie für ein Paket
aus mehreren Blutwäschen
12 000 Euro aus der eigenen
Tasche gezahlt hat.
SPIEGEL: Andere Ärzte pfer-
chen Patienten in eine Druck-
kammer.
Kleinschnitz: Das ist die so-
genannte hyperbare Sauerstoff-
therapie, wo man unter Über-
druck Sauerstoff verabreicht be-
kommt. Das Verfahren ist bei
der Kohlenmonoxidvergiftung
sinnvoll, um das giftige Kohlen-
monoxid im Körper gegen
Sauerstoff auszutauschen. Nun
wird es schlicht auf Long Covid
übertragen – dabei ist ein Nut-
zen völlig unbewiesen.
SPIEGEL: Wie kann man unse-
riöse Angebote erkennen?
Kleinschnitz: Wir raten unseren
Patienten zur Vorsicht, wenn
sie eine kostspielige Prozedur
selbst bezahlen sollen. Und
man sollte den Arzt oder die
Ärztin fragen: Welche Evidenz
gibt es denn eigentlich für die
Methode – und drohen Neben-
wirkungen? BLE
Stiefel putzen für Lurchi
ARTENSCHUTZ Wissenschaftler und Natur-
schützer drängen auf strenge Schutzmaß-
nahmen für Deutschlands schönstes Amphi-
bium, den Feuersalamander. Das Vorbild
für die bekannte Comicfigur Lurchi leidet
unter Frühjahrstrockenheit, Forstwirtschaft
und Verkehr, verliert wegen des Menschen
zahlreiche Lebensräume und wird seit eini-
ger Zeit auch noch von einem Pilz geplagt.
Der schädigt seine Haut massiv und bringt
ihn innerhalb weniger Tage um. Der Pilz
hat in den Niederlanden schon fast alle
Feuersalamander getötet und richtet derzeit
auch in weiten Teilen Deutschlands großen
Schaden an. Vor allem im Ruhrgebiet wurde
bereits ein Massensterben bei den Schwanz-
lurchen beobachtet. Am besten ließe sich
der aus Asien stammende Pilz mit dem
Zungenbrechernamen Batra chochy trium
salamandrivorans (Bsal) bekämpfen, indem
in betroffenen Regionen die in Quellbächen
und Tümpeln lebenden Salamanderlarven
eingefangen würden. Dann sollten sie ins
Labor gebracht und dort so lange gehalten
werden, bis ihr Lebensraum pilzfrei sei,
sagt der Biogeograf Philipp Böning von der
Universität Trier.
Außerdem müssten strenge Hygiene-
maßnahmen ergriffen werden, auch von
Spaziergängern. Wer wisse, dass er in
einem Feuersalamandergebiet unterwegs
war, sollte sein Schuhwerk anschließend mit
Wasser und Bürste säubern und es am bes-
ten noch mit Ethanol einsprühen. Wenn das
Auto in der Nähe abgestellt wurde, sei auch
eine gründliche Reinigung der Reifen rat-
sam. So könne verhindert werden, dass die
Bsal-Sporen beim nächsten Ausflug an
einen anderen Ort gerieten. Die Situation
sei dramatisch, sagt Böning, aber wenn alle
Hygienemaßnahmen streng eingehalten
würden, gebe es »zumindest ein wenig An-
lass zur Hoffnung«. In einem Gebiet der
Eifel, aus dem der Feuersalamander weitge-
hend verschwunden war, gebe es jetzt
wieder eine gesunde Population, sagt der
Wissenschaftler. Es sei denkbar, dass
sich das Tier wie die Amphibien in Asien
an den Pilz anpassten. GUI
Feuersalamander
Patienten bei Überdruck-Sauerstofftherapie
Rudmer Zwerver / Getty Images
Markus Matzel / ullstein bild
Martin Kaiser / UK Essen