LEBEN PODCASTFotos:Privat, Markus C. Hurek106 FOCUS 19/2022Von Träumen, Mut und Aufbruch
Fehlende Perspektiven, die Liebe oder einfach
nur mehr Geld: Es gibt viele Gründe, warum
Menschen sich entscheiden auszuwandern.
FOCUS-Reporter Thilo Mischke hat für seinen
Podcast „Die Auswanderer“ deutschsprachige
Europäer getroffen, die gegangen sind: ein
Wirtschaftsingenieur, der Walbeobachter in
Island sein wollte; ein Schweizer, der in Thailand eine internationale
Hotelkette gründete; das Influencer-Pärchen auf Bali. Individuelle
Geschichten mit einer Gemeinsamkeit: Sie alle erzählen von Mut.
Ganz ohne Trash-TV-Attitüde berichten Auswanderer von geplatzten
und erfüllten Träumen. Sie sind keine verlorenen Seelen
Europas, sondern Menschen mit eigenen, sehr besonde-
ren Erfahrungen. Und sie können Vorbild sein für jene, die
auch gehen wollen. Alle zwei Wochen stellt Mischke hier
eine Auswanderergeschichte vor.E
r steht dort, am Meer, mit den Händen an der Hüfte.
Wind weht durch das zauselige Haar. Kurze Hose, ein
Hemd, die immerbraune Haut des ewigen Sommers
am Äquator. Der Mann sollte eigentlich nicht hier sein.
Auf dieser kleinen Insel im Südwesten Thailands, die
nicht die lärmende Prostitution kennt, kaum Back-
packer, sondern lediglich Ruhe
und versprengte Urlauber, hat
sich der Schweizer Jean-Michel
einen Traum erfüllt. Mit Ende 30,
vor 20 Jahren, kam er hier an.
Keine festen Straßen, Elektri-
zität aus dem Generator, Mü -
cken, die Krankheiten übertragen
können. Kautschukbauern. Mehr
nicht. Jean-Michel beschloss,
Land zu kaufen und ein Hotel zu
bauen. Aber vor allem beschloss
er hierzubleiben.
„Das war nicht immer leicht“,
sagt er. Und meint damit die Men-
talitäten, die Kultur. Aber er war
bereit, für dieses Land zu lernen,
die Sprache, das Miteinander, die
Geschäftsgebaren. Er hat es nie
bereut, dass er hierhergekommen
ist, weil ihm die Insel etwas gibt,
das er in der Schweiz nicht mehr
finden kann. Entdeckergeist und
Geschäftigkeit. Die Möglichkeit,
Risiken einzugehen.
„In Thailand kann man einfach
noch machen. Hier können aus
kleinen Ideen große Sachen wer-
den“, sagt er und meint damit
unter anderem sein Hotel – heu-
te ein Ort, in den die großen Stars
kommen. Es wurde zu einer Ket-
te, die international für echten
Luxus steht, nicht für Klimbim.
Im „Six Senses Yao Noi“ schla-
fen Beyoncé, Tom Cruise und Ro -
naldo. „Aber nicht weil es extrem
luxuriös ist, sondern weil diese In -
sel einfach so schön ist.“ Und ver-
mutlich auch, weil der Flughafen
Phuket via Hubschrauber nur 30
Minuten entfernt ist. Wenn Jean-
Michel von seiner Insel er zählt,
dann träumt er und schwärmt. Als
wäre er, wie ein Reisender, erst
gestern angekommen.Direkt neben dem „Six Senses“ befindet sich ein kleineres
Hotel, eine abgespeckte Variante. Das „Koyao Island Resort“.
Tradition trifft westliche Moderne. Pool trifft auf Flughund, feine
thailändische Küche auf Nattern, die durch die Wiese am Meer
huschen. Kein Massentourismus, sondern eine Erfahrung. „Ich
könnte hier auch leben“, sagt er und meint damit, dass er sich
das Hotel so gebaut hat, dass
es seinen privaten Ansprüchen
gerecht wird. Es ist nicht perfekt,
das soll es auch nicht sein. Aber
so ist auch sein Leben. Nicht per-
fekt, aber besonders.
Das Leben in Thailand bedeu-
tet für diesen Mann auch Ver-
zicht. Auf das Familienleben mit
seinen Kindern in der Schweiz
zum Beispiel. Die Welt dreht
sich zu Hause, in Europa, ohne
Jean-Michel weiter, und diese
Welt dreht sich so schnell, dass
er bei Besuchen zu Hause oft das
Gefühl hat, den Anschluss zu ver-
lieren.
Aber was ist die Heimat für
ei nen Mann, der Zeit seines
Lebens Weltbürger war und nun
auf dieser kleinen Insel ein Re -
fugium gefunden hat? Der heu-
te davon träumt, nach Myanmar
zu expandieren. Der immer noch
selbst kontrolliert, ob die Nüss-
chen an der Hotelbar aufgefüllt
sind.
„Ich bin ausgewandert“, sagt
er. „Ich lebe hier, dies ist mein
Lebensmittelpunkt mit meiner
Frau und meinem Kind.“ Und er
sagt es so überzeugend, dass
deutlich wird: Jean-Michel defi-
niert Heimat anders als die Ur -
lauber, die zu ihm kommen. Die
davon träumen, nach drei, vier
Tagen das zu tun, was er gemacht
hat: hierbleiben. Auf dieser Insel,
die sich weit weg von allem an -
fühlt, aber doch so nah.nIn seinem Podcast Die Auswanderer spricht Thilo Mischke mit Menschen, die Europa verlassen
haben. Zum Beispiel Jean-Michel, der auf Ko Yao Noi eine Luxushotelkette gründete
„In Thailand kann man noch machen“
Trauminsel Auswanderer Jean-Michel mit seiner thailändischen FrauFOCUS-Reporter Thilo
Mischke recherchiert welt-
weit – vor allem in Kriegs-
und KrisengebietenMEHR GEHT NICHT: DER „GIN DES JAHRES“
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