FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
POLITIK

Foto: Nikolai Trishin/dpa

A


lex Lissitsa betrachtet auf-
merksam die Schäden, die
die russischen Soldaten
seinem Kornspeicher in
Tschernihiw, im Norden der
Ukraine, zugefügt haben.
„Sie haben ihn immer
wieder mit Mörsern und Grad-Raketen
beschossen, überall gibt es Löcher, das
Dach ist an mehreren Stellen eingebro-
chen“, sagt der 48-jährige Ukrainer.
„Weil er aber voll mit Korn gefüllt ist,
kollabierte das Gebäude nicht.“
Während im Osten der Ukraine wei-
ter schwer gekämpft und die Hafenstadt
Mariupol dem Erdboden gleichgemacht
wird, wagen Unternehmer wie Lissitsa in
den von Russen befreiten Gebieten schon
den Neuanfang. Westlich und nördlich

Totale Blockade Der Hafen von Mariupol ist ein wichtiger Ausfuhrhafen, jetzt ist er umkämpft Traditionelle Landwirtschaft Bauern in einem Dorf nördlich von Kiew beackern den Boden


men“, sagt Lissitsa. Sein Deutsch ist per-
fekt, an der Berliner Humboldt-Universität
hat er Landwirtschaft studiert. „Nun fielen
wir von einem Tag auf den anderen in eine
existenzielle Krise und kämpfen ums Über-
leben.“ Lissitsa ist auf den Dachboden des
Silos geklettert und blickt auf die Dörfer
am Rande der Stadt. Der Frühling zieht
ein, zwischen den Bauernhäusern blühen
Obstbäume. Ein seltsamer Gegensatz: hier
Idylle pur, dort das Gespräch über Verlust
und Zerstörung.
Der Unternehmer steht vor vielen Pro-
blemen, aber das größte ist die Blockade
ukrainischer Häfen durch die russische
Marine, denn seine Firma exportierte
bisher fast die gesamte Produktion an
Weizen, Mais und Sonnenblumenöl über
Odessa und Mykolajiw. „Die Regierung

Sonnenblumenöls in der EU kamen von
dort, Kiew deckte den europäischen Bedarf
an nicht genmanipuliertem Mais und Soja.
Lateinamerika hängt zudem stark von
der Düngemittelproduktion ab, bei der
die Ukraine ebenfalls zu den Großen der
Branche gehört.
Doch wegen des Krieges ist die Agrar-
produktion in vielen Gebieten des Südens
und Ostens unmöglich. „In den letzten
Jahren wurden etwa 30 Millionen Hektar
Land in der Ukraine bewirtschaftet“, sagt
Lissitsa, der 14 Jahre lang dem ukraini-
schen Agribusiness Club vorstand und
die Branche gut kennt. „Ich hoffe, dass
wir dieses Jahr immer noch auf 22 Mil-
lionen Hektar ernten werden.“ Bei sei-
ner IMC werden etwa 20 bis 25 Prozent
der Flächen ausfallen. Schuld daran sind

»
Wenn wir
nichts ausfüh-
ren, sind wir
spätestens im
Oktober zah-
lungsunfähig

«
Alex Lissitsa,
Chef der IMC Holding

von Kiew werden überall hektisch Fel-
der gepflügt und für die Saat vorbereitet.
Etwas später als sonst, aber noch recht-
zeitig, um im Sommer zu ernten.
Lissitsa ist Teilhaber und Chef der
IMC Holding, die in den Re-
gionen Tschernihiw, Sumy
und Poltawa 120 000 Hektar
Land bewirtschaftet. Es ist
gutes, fruchtbares Land, meist
die berühmte ukrainische
Schwarzerde, die auch ohne
Bewässerung im Sommer aus-
kommt. Alles große Felder,
oft 200 bis 300 Hektar, die
hier und da von Baumreihen
getrennt sind. Vor dem Krieg
war das Unternehmen sehr
erfolgreich, machte 200 Millio-
nen Euro Umsatz im Jahr. „Wir
gehörten zu den zehn größten
ukrainischen Agrarunterneh-

geht davon aus, dass die Häfen dieses und
womöglich auch nächstes Jahr geschlos-
sen bleiben“, sagt Lissitsa. „Tritt das ein,
sind wir im Herbst vielleicht schon pleite.“
Doch nicht nur ukrainische Unterneh-
men hätten dann ein Problem.
Je länger die Hafenblockade
dauert, desto größer könnte
die Ernährungskrise in Ent-
wicklungsländern vor allem in
Nordafrika, im Nahen Osten
und Südasien werden, die
zu den größten Importeuren
ukrainischen Korns gehören.
Die Ukraine ist einer der wich-
tigsten Agrarexporteure der
Welt, ihr Anteil an der Getrei-
deproduktion betrug vor dem
Krieg fast zwölf Prozent. Das
Land war der viertgrößte Mais-
und sechstgrößte Weizen-Ex-
porteur. Über 80 Prozent des

nicht nur die Kampfhandlungen, sondern
auch die mangelnde Verfügbarkeit von
Treibstoff, Dünger und Pflanzenschutz-
mitteln.

2000 Jobs sind in Gefahr
Vor dem Krieg verkaufte die Holding den
Mais immer zwischen März und Juni, etwa
100 000 Tonnen im Monat. Pünktlich zur
Weizenernte im Juli waren die Speicher
dann leer. „Das werden wir dieses Jahr
unmöglich schaffen“, sagt Lissitsa. Die
sechs Speicher mit einer Kapazität von
550 000 Tonnen sind noch zur Hälfte
mit der Mais-Ernte des Vorjahrs gefüllt.
„Wenn wir aber nichts ausführen, sind
wir spätestens im Oktober zahlungsun-
fähig: 2000 Mitarbeiter verlieren dann ihre
Jobs, außerdem werden wir unsere 46 000
Pachtverträge nicht auszahlen können.“
Denn der Boden gehört nicht der Firma,
sondern Kleinbauern, die es nach Auf-
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