UKRAINE
Kriegszeugnis Ein zerstörter russischer gepanzerter Wagen zeugt von der Schlacht im Norden Aufs Dach Die Mais-Lagerhalle in Tschernihiw wurde von russischen Raketen getroffen
Das kann niemand, aber es bleibt kaum
noch Zeit. Der Firmenchef wies deswegen
sein Verkaufsteam an, nach Käufern für
den Mais zu suchen. „Wir sind bereit, ihn
für 240 Euro pro Tonne zu verkaufen – das
ist deutlich weniger als der Weltmarktpreis
von 340 Euro“, sagt er. „Dennoch wollen
manche Kunden immer noch mit uns feil-
schen.“ Auch die Banken wollen plötz-
lich über neue Konditionen für alte Kredite
verhandeln. „An neue Kredite ist nicht zu
denken, dabei haben wir Korn im Wert von
70 Millionen Euro in unseren Speichern
liegen“, schimpft der Geschäftsmann.
So musste das Unternehmen die zum
- April versprochene Gehaltserhöhung
und die Auszahlung der Dividende an die
Mitarbeiter stoppen. „In unserem Tscher-
nihiw-Cluster, wo wir sonst 600 Menschen
beschäftigen, waren wir gezwungen, Leute
zu entlassen und andere mit Mindestlohn
von 400 Euro in Kurzarbeit zu schicken“,
setzt er fort: „Im Herbst wollen wir dann
wieder auf 10 000 Hektar Winterweizen
aussäen.“ Dabei kann seine Firma noch
von Glück reden: Die Russen zogen sich
aus dem Gebiet so schnell zurück, dass sie
nicht – wie woanders – die Landmaschi-
nen mitgenommen oder zerstört haben. Im
Osten und Südosten sollen sie 400 000 Ton-
nen Getreide gestohlen haben.
Die IMC-Mitarbeiter zeigen Verständnis
für die Kürzungen, eine Alternative haben
sie in der strukturschwachen Region ohne-
hin nicht. Einige sind vermutlich einfach
nur froh, dass sie überhaupt noch leben
und einen Job haben. „Durch unser
Dorf Sloboda verlief die Front: Die Rus-
sen haben sich in die besten Häuser ein-
quartiert und warfen ihre Besitzer auf die
Straße“, erzählt Sergej Jarosch, Leiter des
bombardierten Speichers in Tschernihiw,
während sich ein paar IMC-Beschäftigte in
einer Arbeiterunterkunft zu einem kleinen
leichten Schlaganfall und war tagelang
bettlägerig. „Ich konnte sie nicht besuchen
und auch telefonisch nicht erreichen, denn
die Russen haben mehrere Mobilfunkmas-
ten zerstört, und es gab keinen Strom, um
die Handys zu laden.“ Inzwischen geht es
ihr besser, auch alle Mitarbeiter und ihre
Familien haben den Krieg überlebt. Lis-
sitsa bedankt sich bei den Versammelten
und spricht einen Toast, der mit „Slawa
Ukraine – Ruhm der Ukraine“ endet.
Dort, wo der Krieg möglicherweise
beendet ist, lauern seine grausamen Hin-
terlassenschaften. Das Verteidigungsmi-
nisterium warnt vor dem Betreten von Fel-
dern in den (einst) okkupierten Gebieten.
Wegen Minengefahr. „Wir haben einige
Felder von einem Minen-Räumkomman-
do überprüfen lassen“, sagt Lissitsa. „Sie
fanden mehrere nicht explodierte Mörser-
granaten, Fragmente von Grad-Geschos-
sen und zwei Minen, die die Russen
lösung der Kolchosen Anfang der 1990er
Jahre bekommen und verpachtet haben.
Der Landverkauf war bis zum Sommer
2021 gesetzlich untersagt.
Lissitsa sucht verzweifelt nach Wegen,
um seinen Mais per Lastwagen und Bahn
nach Polen und Rumänien zu bringen.
Eine gigantische logistische Herausforde-
rung. „Wir bräuchten etwa 100 Lkw pro
Woche, um auf 30 000 Tonnen im Monat
zu kommen“, rechnet er vor. „Leider
kann man mit der Bahn nicht direkt über
die Grenze in die EU fahren, dort ist die
Gleisbreite schmaler als bei uns.“ Lissitsa
müsste ein Zentrum jenseits der Grenze
in Polen aufbauen, um das Getreide dort
zwischenzulagern. „Aber wer kann mir
garantieren, dass die Russen die Gleise
nicht zerstören und ich viel Geld verliere?“
sagt Lissitsa. Betroffen von
dem Sparkurs ist vor allem
ein Milchbetrieb in Slijiw mit
1000 Kühen, die während der
russischen Okkupation nicht
gemolken werden konnten.
Sie werden nun nach und
nach an eine Fleischfabrik
verkauft, die Milchfarm wird
geschlossen.
In Tschernihiw will die IMC
im Juli noch den Winterweizen
ernten, danach sollen die Fel-
der sechs Monate brachliegen.
„Wir haben einfach keine an-
dere Wahl“, sagt Lissitsa, und seine Augen
werden bei diesen Worten ein bisschen
feucht. Er ringt kurz mit sich, will seine
Emotionen und Ängste nicht zeigen. Dann
Umtrunk versammeln. Es gibt
Würstchen und Wodka. „Wer
protestierte, wurde erschos-
sen“, sagt Jarosch. „Männer
wurden gefoltert. Ununterbro-
chen gab es Explosionen und
Artilleriebeschuss. Wir saßen
in kalten Kellern und wagten
uns wochenlang nicht nach
draußen. Beinahe wären wir
verrückt geworden.“
Minen und Granaten
auf den Feldern
Auch Lissitsas Mutter, die in
einem Dorf nahe der russischen Grenze
lebt, wäre fast ein Opfer der Aggression
geworden. Als ein russischer Panzer vor
ihrem Brunnen anhielt, erlitt sie einen
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Die Russen
haben sich in
die besten
Häuser ein-
quartiert ...
Wer protes-
tierte, wurde
erschossen
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Sergej Jarosch,
IMC-Mitarbeiter