FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

Foto: REUTERS/I-Hwa Cheng


B


is zum Jahr 2027 soll
eine Reform des chine-
sischen Militärs abge-
schlossen sein, die
Machthaber Xi Jinping
den Streitkräften verordnet hat.
Peking erhält dabei Unterstützung
aus Moskau: Vor allem Invasion,
Landnahme und Häuserkampf
soll die russische Armee der
Volksbefreiungsarmee beibringen.
Diese Fähigkeiten bräuchte sie,
um vom chinesischen Festland aus
die demokratische Inselnation
Taiwan anzugreifen.
Es darf also davon ausgegan-
gen werden, dass man sich in der
Volksrepublik genau anschaut, wie die Invasion der Ukraine
läuft und ob das, was die russische Armee der chinesischen
beibringen will, auch in der Wirklichkeit funktioniert.
Putin träumt vom Wiederauferstehen des „heiligen Russ-
lands“, Xi Jinping von der „Wiedervereinigung Chinas“. Beide
glauben, dass Schicksal und Weltgeschichte sie beauftragt
hätten, mit der Unterwerfung der Ukraine respektive Taiwans
ein „Jahrhundert der Demütigung“ zu beenden. Beide haben
geschworen, diese Aufgabe zu ihren Lebzeiten erfolgreich abzu-
schließen. Für Putin und Xi sind die Ukraine und Taiwan daher
nicht irgendwelche Punkte auf der Landkarte, sondern Schick-
salsorte. Sie werden nicht nachgeben können – selbst wenn sie
das wollten – und von ihren Unterwerfungsplänen absehen.
Einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Län-
dern gibt es allerdings: Russland hat nichts, China jede Menge
zu verlieren. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine war die
Wirtschaftsleistung Russlands nicht größer als die von Belgien
und den Niederlanden zusammengenommen. Die chinesische
Volkswirtschaft hingegen könnte in absehbarer Zeit die US-
amerikanische als die größte der Welt ablösen.
Die Reaktion der freien Welt auf den Völkerrechts-
bruch Russlands lässt in Peking die Alarmglocken läu-
ten. Denn Putin und Xi, die ja beide Menschenrechte,
Demokratie und Freiheit verabscheuen, haben wohl
nicht geglaubt, dass der Westen sich schnell zu einer
Phalanx gegen den Unrechtsstaat Russland formieren
würde. Sollten die demokratischen Nationen die chine-
sische Wirtschaft in der gleichen Weise mit Sanktionen
belegen wie Putins Reich, könnte es für Xi eng werden.
Die USA und Japan warnen, dass sie einer Invasion
der Inselrepublik Taiwan nicht tatenlos zuschauen wür-
den. Gleichwohl ist der Welt im Westpazifik nicht damit
gedient, wenn Atommächte sich gegenseitig mit Kriegs-
drohungen überziehen. Klar ist, dass die Menschen in

Taiwan – wie in der Ukraine –
die Soldateska der Diktatur von
nebenan nicht mit Blumen will-
kommen heißen werden. Taiwans
Präsidentin Tsai Ing-Wen, die
ihre zweite Amtszeit wegen ihres
knallharten Auftretens gegen-
über Peking gewonnen hat,
erklärte mehrfach, dass ihr Land
sich mit allen Ressourcen gegen
den Angreifer wehren werde.
China droht in Taiwan wohl ein
ähnliches Fiasko, wie Russland es
gerade in der Ukraine erlebt.
Um zu verstehen, was China
wirklich plant, muss man aller-
dings über Taiwan hinausschau-
en. Peking hat Grenzkonflikte mit all seinen Nachbarn und
verfolgt das Ziel, den gesamten Westpazifik zu dominieren.
Inseln, die zu den Philippinen gehören, hat China bereits von
Söldnern besetzen lassen. Zudem wurden künstliche Eilan-
de aufgeschüttet und militarisiert. Das „Sicherheitsgesetz zu
Meer“ schreibt Peking das Recht zu, in der Region Schiffe
zu versenken, da sie sich in chinesischen Hoheitsgewässern
befänden. Der Internationale Gerichtshof der UNO hat diese
Definition zurückgewiesen, doch Chinas Nomenklatura zeigt
sich davon unbeeindruckt. Mit den Salomon-Inseln hat Peking
gerade ein Abkommen geschlossen, welches den Bau einer
chinesischen Militärbasis dort erlaubt. Die USA schließen nicht
aus, gegen die Inseln militärisch vorzugehen, sollte eine solche
Basis gebaut werden.
In Peking kommt es angesichts des Ukraine-Feldzugs des
Kreml gewiss zu einer Neubewertung der Taiwan-Strategie.
Diese wird aber kaum dazu führen, dass man von der Erobe-
rung ablässt – im Gegenteil. Bislang bestand nach Meinung
von US-Militärexperten Pekings Strategie aus vier Komponen-
ten. Erstens dem Bombardement der militärischen und
zivilen Infrastruktur. Als Zweites würden eine Seeblo-
ckade und Cyberattacken folgen. Als Drittes käme ein
Angriff auf die US-Truppen, die im benachbarten Okina-
wa in Japan stationiert sind. Und als Viertes stünde das
Anlanden der chinesischen Armee auf der Insel mit dem
Ziel dauerhafter Besatzung bevor. An diesem Plan muss
Peking nichts ändern, lediglich sicherstellen, dass seine
Armee auch wirklich in der Lage ist, diese vier Schritte
besser als die russische Armee in der Ukraine auszu-
führen. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, dass die
Verantwortlichen in den Hauptstädten der freien Welt
nach ihrer fehlerhaften Russland-Politik nun ihre China-
Politik neu ausrichten müssen. Denn Xi Jinping wandelt
auf dem Kriegspfad – daran gibt es nichts zu rütteln. n

Taiwans Solidarität mit der Ukraine: Demonstranten in der Hauptstadt Taipei

Chinas Staatschef Xi Jinping will wie Präsident Wladimir Putin das „Jahrhundert der Demütigung“


durch den Westen beenden. Im Westpazifik dehnt Peking seine Macht rücksichtslos aus


Taiwan – und was Xi von Putin lernt


Von Alexander Görlach
Forscher am Carnegie Council for Ethics in International Affairs, New York

MEINUNG

Prof. Alexander
Görlach, 45
Der China-Experte
hat gerade ein neues
Buch über Taiwan
(„Alarmstufe Rot“)
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