FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

WISSEN


Fotos:

Steffen Roth für FOCUS-Magazin, C. Plamp, K. Göken beide Staatliche Museen zu Berlin/Museum für Vor und Frühgeschichte, dpa, bpk

V


erstaubt auf Dachböden, ver-
gessen in Kellern, verräumt
in Schubladen vieler Berliner
Wohnungen liegen kulturelle
Schätze. Ihre vermeintlichen
Besitzer haben meist keine
Ahnung, wie bedeutsam sie
sind. Es sind Scherben, Klingen und Figu-
ren, die Menschen vor mehr als 4000 Jah-
ren an der Ostküste des Mittelmeeres
geschaffen haben. Zeugnisse längst ver-
gangener Epochen, darunter Stü-
cke aus der sagenum wobenen
Stadt Troja.
Die Artefakte stammen aus
Grabungen des berühmt-berüch-
tigten deutschen Kaufmanns und
Archäologen Heinrich Schliemann.
Wie sie in die Hände Berliner Fami-
lien gelangten, ist Teil einer gro-
ßen Abenteuergeschichte, eines
Krimis, der im 19. Jahrhundert
begann und bis heute weitergeht.
In diesem Jahr jährt sich Schlie-
manns Geburtstag zum 200. Mal.
Das Leben dieses Glücksritters,
Großkotzes und Visionärs zeichnen
nun die James-Simon-Galerie und
das Neue Museum auf der Berliner
Museumsinsel in ihrer Ausstellung
„Schliemanns Welten“ nach – mit
Videoinstallationen, Fotowänden
und rund 700 Objekten, darunter
viele internationale Leihgaben.
Ausstellungsleiter und Direktor
des Museums für Vor- und Früh-
geschichte Matthias Wemhoff blickt lie-
bevoll auf einige von Schliemanns Fund-
stücken. In einem abgedunkelten Raum
im Obergeschoss des Neuen Museums
liegen sie vor ihm. Er schiebt die Ärmel
seines Hemds noch ein wenig höher, greift
vorsichtig einen schlanken Becher mit
zwei Henkeln heraus. „Depas Amphi-
kypellon“ – so hatte Schliemann diese
Gefäße in Anlehnung an Erzählungen
des Dichters Homer genannt und damit,
wie so oft, falsch gelegen. Das große
Vermächtnis des nur 1,57 Meter kleinen
Schliemann ist bis heute zwiespältig. „Er
war ein Weltenwandler, der in kein Sche-
ma passt“, sagt Wemhoff.
Schliemann wird am 6. Januar 1822 im
mecklenburgischen Neubukow als fünftes
von neun Kindern geboren. Er wächst in
Ankershagen auf, wo der Vater die Pfarr-
stelle übernimmt. Der Pastor trinkt, prügelt
und hat Affären. Seine Frau stirbt nach der
Geburt des letzten Kindes. Bald rebelliert
die Gemeinde gegen den unchristlichen
Gottesmann. Er verliert Stelle und Ein-
kommen, das Schulgeld für seinen Sohn
kann er nicht mehr zahlen. Das Abitur


bleibt Heinrich verwehrt, und er beginnt
mit 14 Jahren eine Kaufmannslehre. Diese
Erlebnisse seiner Kindheit treiben ihn ein
Leben lang an, glaubt der Historiker und
Schliemann-Biograf Frank Vorpahl: „Er
versucht, den Namen Schliemann aus dem
Dreck zu holen und mit goldenem Glanz
zu verknüpfen.“
1841 will der Pfarrerssohn sein Glück in
Venezuela suchen. Sein Schiff strandet vor
der Insel Texel, er landet in Amsterdam.

Dort arbeitet er zunächst als Bote in einem
Handelshaus. Fortan bringt er sich selbst
Fremdsprachen bei. An seinem Lebens-
ende wird er mehr als 16 beherrschen.
Dass er in Amsterdam unter anderem
mit Russisch beginnt, zahlt sich schnell
aus. Sein Arbeitgeber schickt ihn 1846
als Vertreter nach Sankt Petersburg, wo
er bald mit enormem Erfolg auf eigene
Rechnung handelt und die russische
Staatsbürgerschaft erwirbt. 1850 folgt er
dem Rausch des Goldes nach Kalifornien.
Er bleibt zwei Jahre, eröffnet eine Bank,
verdoppelt sein Vermögen.

Emotional unbegabt
Zurück in Russland verdient er im Krim-
krieg zwischen 1853 und 1856 Millionen.
Er handelt mit Blei, Salpeter und Indigo.
Schon vor dem Krieg hat er seine gesell-
schaftliche Stellung durch die Heirat mit
einer russischen Kaufmannstochter gefes-
tigt. Es ist keine Liebesbeziehung. 1864
lässt er seine Frau und drei Kinder zurück,
um die Welt zu bereisen. „Schliemann
war emotional nicht besonders begabt“,
glaubt Wemhoff. Als sein 15-jähriger Sohn

1869 vom Tod der Schwester schreibt, ant-
wortet der Vater, dass seine Handschrift
zu wünschen übrig lasse. Es ist das Jahr,
in dem Schliemann die amerikanische
Staatsbürgerschaft annimmt, um seine in
Europa nicht auflösbare Ehe scheiden zu
lassen. Zeitgleich erhält er von der Uni-
versität Rostock einen Doktortitel. Er hat
ein Buch über China und Japan verfasst,
an der Sorbonne in Paris studiert und seine
erste Forschungsreise nach Griechenland
angetreten. Eine Schrift über Troja
legt er als Dissertation vor.
Der Teil seines Lebens, der
ihm zu Ruhm verhelfen wird, hat
begonnen. Inspiriert hat Schlie-
mann wohl ein Buch, das auf
der Weltausstellung 1867 zum
Hit wird. Der Grieche Giorgos
Nikolaidis präsentiert darin eine
Militärkarte: Sie soll die Schlacht
um Troja zeigen. In seiner Ilias
hatte Homer über diesen Krieg
geschrieben. Ob er jemals statt-
gefunden hat, ist unklar. Doch
das Publikum des späten 19. Jahr-
hunderts ist fasziniert von dem
Mythos. Schliemann beschließt:
Ich finde Troja und setzt alles auf
dieses Projekt. „Das ist vergleich-
bar mit den Mondfahrplänen
eines Elon Musk“, sagt Vorpahl.
Den entscheidenden Hinweis
liefert Frank Calvert, Diplomat in
britischen Diensten. Er vermutet
Troja unter dem Hügel Hisarlik
auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches.
Calvert hat kein Geld für eigene Grabun-
gen, besitzt aber einen Teil des Landes.
„Schliemann übernimmt das Projekt wie
eine Heuschrecke. Selten hat jemand so
viel eigenes Geld für archäologische Aus-
grabungen in die Hand genommen“, sagt
Vorpahl. So besessen von Homers Grie-
chenland ist Schliemann, dass er nach
einer hellenischen Heiratskandidatin
suchen lässt, später seine Kinder nach
Homers Charakteren Andromache und
Agamemnon tauft und sich einen tempel-
artigen Palast in Athen errichten lässt.
In den 1870er Jahren legt Schliemann
die Reste dessen frei, was Homer als Troja
beschreibt. Damals noch Neuling in der
Welt der Archäologie, vermutet er die
Spuren der Stadt in den untersten Erd-
schichten. Er lässt einen tiefen Graben
ausheben und zerstört dabei Siedlungs-
spuren aus Jahrhunderten, auch troja-
nische. Worauf er schließlich stößt, ist
Hunderte Jahre älter. Sich dessen nicht
bewusst, findet Schliemann einen gewal-
tigen Goldschatz und schreibt diesen
sofort Priamos zu, dem trojanischen

Zeugnisse vergangener Epochen Matthias Wemhoff,
Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, mit Stücken,
die Heinrich Schliemann vor mehr als 100 Jahren in Troja fand
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