FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1
MEDIEN

Fotos: Karin Hofer, mauritius images / Michael Mueller / Alamy, Mario Vedder/dapd


W

enn er aus den Fenstern
seines Eckbüros blickt,
sieht er den Sechse -
läu ten platz, dahinter das
Bellevue mit seinen vor-
nehmen Gebäuden, zur
Linken das Opernhaus und, natürlich,
den Zürichsee. Zu seinen Füßen liegen
einige der schönsten Seiten der Stadt.
Doch sein Anspruch geht
darüber hinaus, er will Be -
achtung beim großen Nach-
barn, dass die wichtigen Leu-
te in Berlin, Frankfurt oder
München die „Neue Zürcher
Zeitung“ lesen. Und der Ver-
lag den deutschen Markt
erfolgreich bearbeitet.
Eric Gujer, geboren 1962 in
Zürich, ist seit sieben Jahren
„NZZ“-Chefredaktor, wie die
Stellung in der Schweiz heißt.
Und verantwortlich für den
Inhalt der einzigen Schweizer
Zeitung mit Ausstrahlung
über die Landesgrenzen hin-
aus. Die „alte Tante“, wie sie
genannt wird – die erste Aus-
gabe erschien vor 242 Jahren
–, zählt zu den Leitmedien im
deutschsprachigen Raum. In
Zürich spricht man vom „Weltblatt von
der Falkenstraße“, das ist in inländischen
Augen nur leicht übertrieben. Gesichert
ist, dass Helmut Kohl die „NZZ“ werktäg-
lich las; und über Gujers Schreibtisch zeigt
ein Foto Kanzler Adenauer auf einem Lie-
gestuhl mit aufgeschlagener Zürizytig.
Er sei im Grunde kein richtiger Schwei-
zer, sagen Beobachter, die streng über
ihn urteilen. Das sind nicht wenige, es
soll welche im eigenen Unternehmen mit
derzeit 700 Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern geben. Plus viele unter den mehr-
heitlich sozialdemokratisch oder links
wählenden Zürcherinnen und Zürchern.

Heimatverbundener Auslandsschweizer
Gujer wuchs in Baden-Baden auf, stu-
dierte Geschichte, Politikwissenschaft
und Slawistik in Freiburg sowie Köln.
1986 begann er für die „NZZ“ als freier
Mitarbeiter, ab 1989 in Ostberlin, zustän-
dig für die DDR beziehungsweise die
neuen Bundesländer, danach in Jerusa-
lem, Moskau und ab 1998 wieder in Ber-
lin als Deutschland-Korrespondent. 2013
zog er in die Schweiz und bekam als Lei-
ter des „NZZ“-Auslandsressorts erstmals
einen Arbeitsplatz an der Falkenstraße.

„Auslandschweizer“ nennt man Leute
mit solchem Lebensweg in der Schweiz,
es ist nicht immer als Kompliment ge -
meint. „Treffen mit einem Journalisten,
der aus der Kälte kam“ war die Unter-
zeile zu einem Porträt, das vor zwei Jah-
ren in der linken Onlinezeitschrift „Repu-
blik“ erschien. Natürlich – der Prophet im
eigenen Land. Doch am 22. Mai erhält er

in der Frankfurter Paulskirche den mit
20 000 Euro dotierten Ludwig-Börne-Preis,
einen der wichtigsten Publizistikpreise
hierzulande. Die Börne-Stiftung ehrt damit
deutschsprachige Autoren, die im Bereich
des Essays, der Kritik und der
Reportage Hervorragendes
geleistet haben.
Der Vorsitzende und Grün-
der der Stiftung, Michael
Gotthelf, sieht Ähnlichkei-
ten zwischen dem Namens-
geber des Preises und Gujer:
„Beide liefern aus einem
Nachbarland treffsichere Ab -
handlungen zum Zustand
von Politik und Demokratie
in Deutschland – und weisen
auf Missstände hin.“
Betrachtet man die Abon-
ne ments der gedruckten
„NZZ“, zeigt sich das un-
schöne, aber in der Verlags-
branche übliche Bild der
sinkenden Auflage: 2015, als
Gujer den Chefposten über-
nahm, lag die Zahl über
100 000, heute schätzungs-
weise unter 70 000 (zu Abos

macht die „NZZ“ keine Angaben). Doch
Schlüsse bloß daraus zu ziehen wäre
falsch – denn bei den digitalen Abonne-
ments verzeichnet die „NZZ“ ein klares
Wachstum, und die Leserzahl in Deutsch-
land konnte ebenfalls deutlich gesteigert
werden. Klar, das kostet Geld, mittlerwei-
le zählt das Berliner Büro 20 Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter. Doch Anleger
erwarten weiter gute Ge -
schäfte. Die „NZZ“-Aktie –
diese dürfen nur Mitglieder
der FDP oder weitere Perso-
nen, die sich zur freisinnig-
demokratischen Grundhal-
tung bekennen, kaufen –
stieg in den vergangenen
drei Jahren um rund 40 Pro-
zent (der Schweizer Gesamt-
markt bloß um 32 Prozent).
Er sei „besessen davon,
Deutschland zu erobern
mit der ‚Neuen Zürcher
Zeitung‘“, stand im „Repu-
blik“-Artikel. Worauf Gujer
entgegnet, er sei erstens
nicht besessen, „sonst hät-
te ich nicht mehr als drei-
ßig Jahre im doch sehr wohl-
temperierten Haus ,NZZ‘
verbracht“. Zweitens sei ihm
die kriegerische Rhetorik des Eroberns
„äs bitzeli fremd“. Der Auslandschwei-
zer, der mit seiner in Österreich gebore-
nen Frau, „NZZ“-Feuilletonredakteurin
Claudia Schwartz, in einem Zürcher Vor-
ort lebt, spricht Züritütsch,
Mundart. Er sei stattdessen
zufrieden, im Nachbarland
ein „relevantes, hochqua-
litatives Angebot zu schaf-
fen und einen festen Platz
in der deutschen Medien-
landschaft“ einzunehmen,
sagt er.
Im Gespräch ist er eher zu-
rückhaltend, was als schwei-
zerische Tugend gesehen
wird. Und tritt bescheidener
auf, als es seinem Selbst-
verständnis wohl entspricht.
Doch vor größerem Publikum
wird er lauter und gibt sich
seiner freiheitlichen Sache
sicher. Er tut dies in seinem
persönlichen, vor allem an
deutsche Nutzerinnen und
Nutzer adressierten freitäg-
lichen Newsletter mit Namen
„Der andere Blick“. Den

Liberale Bastion Das Redaktionsgebäude in Zürich. Gujer strebt
„einen anderen Blick“ auf das politische Weltgeschehen an

»
Treffsichere
Abhandlungen
über den
Zustand von
Politik und
Demokratie

«


Michael Gotthelf,
Ludwig-Börne-Stiftung
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