FOCUS - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR MEDIEN


Fotos: dpa, NZZ

Inhalt bezeichnet er als „exklusive Kom-
mentare“ oder „prägnante Analysen“.
Am ersten Freitag im März schrieb er
zu Putins Krieg in der Ukraine: „AfD und
die SVP [stärkste Schweizer Partei, kon-
servativ bis rechtsbürgerlich] scheuen,
klar Stellung zu beziehen. Das Argu-
ment der Neutralität ist vorgeschoben.
Dass sich diese Parteien in der Pandemie
als letztes Bollwerk der Freiheit insze-
nierten, entlarvt sich nun umso deut-
licher als Charade. Freiheit ist für sie
offenkundig nur so weit von Bedeutung,
als sie sich für ihre Propaganda instru-
mentalisieren lässt.“


Attacke auf den „Seuchen-
Sozialismus“


Ohne Freude an Zuspitzung könne man
keinen guten Kommentar abgeben, sagt
er. „Und ein Schuss Polemik gehört auch
dazu.“ Provokationen um der Provokatio-
nen willen wolle man dagegen vermei-
den. Im Ton unaufgeregt, eher sachlich
und nüchtern, das sei der Anspruch. Doch
eine klare Meinung auf Gebieten, die er
als relevant für die „NZZ“ einschätzt –
„große Themen, Politik, Wirtschaft, Kul-
tur“ –, wolle man dabei unbedingt äußern.
Dass eine solche in Deutschland leichter
als Provokation wahrgenommen werde,
liege an den homogeneren, mit anderen
Worten linksliberalen Medien. Meinun-
gen, die in der Schweiz dem Mainstream
entsprächen, lägen in Deutschland am
rechten Rand, beispielsweise wenn es
um Migration gehe.
Während der Pandemie fiel er auf mit
seiner Wortschöpfung vom „Seuchen-Sozi-
alismus“; er verlangte von Unternehmern,
die in Schwierigkeiten geraten waren
wegen behördlich befohlener Maßnah-
men zur Eindämmung des Coronavirus,
mehr Eigenverantwortung, statt stetig stei-
gende Staatsstütze zu beantragen.
Zum „NZZ“-Sound gehört äs bitzeli
Überheblichkeit – „Falkenstraße warnt
Moskau“, sagt man in Zürich. „Die Tor-
heit der Tyrannen – warum Putin verliert,
auch wenn er den Krieg gewinnt“ war
die Headline des erwähnten „anderen
Blicks“. Unterzeile: Despoten machten
immer denselben Fehler und unterschätz-
ten die Widerstandskraft offener Gesell-
schaften. „Wir sind nicht vermessen und
glauben, dass der Kreml seine Außen-
politik nach der „NZZ“ ausrichtet – wir


sind aber überzeugt, dass sie besser wäre,
wenn er’s machen würde“, sagt Gujer.
Man sei Teil der öffentlichen Diskus-
sion, in der Schweiz sowieso und zuneh-
mend auch in Deutschland. Was sich etwa
darin äußere, dass Kolleginnen und Kolle-
gen aus dem Berliner „NZZ“-Büro immer

gefragter seien als Talkshow-Gäste. Unter
diesen Kolleginnen und Kollegen gibt es
immer weniger Schweizer.
Kein Nachteil, findet Gujer. Denn er
mache die zu verbreitenden Aussagen
weniger an der Nationalität der Mitar-
beiter fest als vielmehr an den Werten,
die sie hochhalten – „die ,NZZ‘ steht für
Swissness, das ist das Entscheidende“.
Mit „Swissness“ meint er nicht Schweizer
Käse oder Chalets mit Arvenholz-Innen-
ausbau, sondern eine liberale Sicht auf
politische und wirtschaftliche Vorkomm-
nisse in der Welt, wie sie in Deutschland
früher von, sagen wir, Otto Graf Lambs-
dorff vertreten wurde. Und die heute der
schreibenden Mehrheit abgeht und also
in den Medien fehlt.

Weitsicht oder Ego-Projekt?
„Er ist ein hervorragender Schreiber und
macht eine gute Zeitung“, sagt Roger
Schawinski, ein Schweizer Radio- und
TV-Unternehmer sowie ehemaliger
Sat.1-Geschäftsführer. Er finde es groß-
artig, dass Gujer keine Angst habe, die
Schweizer Volkspartei SVP mit der AfD
zu vergleichen und beide in den Senkel
zu stellen. Doch er habe auch Ausfäl-
le: „Es gab keinen Seuchen-Sozialismus
in der Schweiz.“ Die Ausdehnung der
„NZZ“ über die Grenzen hingegen ergibt
für Schawinski wenig Sinn – „Deutsch-
land scheint ihm wichtiger zu sein als die
Schweiz. Das ist vor allem ein Ego-Pro-
jekt, doch es rechnet sich wohl nicht.“
Die gedruckte und digitale Tageszeitung,
hält Gujer dagegen, sei im vergangenen
Jahr wirtschaftlich erfolgreicher gewesen
als in den zwanzig Jahren davor. „Die
Profitabilität war 2021, bei deutlich gerin-
gerem Umsatz, die höchste seit 2000“,
bevor soziale Medien im World Wide Web
mehrheitsfähig wurden, sagt er.
Die „alte Tante“ wird zurzeit stärker be-
achtet als sehr oft in ihrer Geschichte,
diese Aussage ist belastbar. Zudem ge-
fällt sie, oder genauer ihre zeitgemäß
digital daherkommende Schwester, einer
wachsenden Zahl von Entscheidungsträ-
gern in Deutschland. „NZZ“-Chefredak-
teur Eric Gujer, so sieht’s aus, blickt über
die schönen Seiten der Stadt vor seinem
Fenster hinaus. Und sorgt dafür, dass das
Weltblatt von der Falkenstraße auch im
(deutschsprachigen) Ausland als solches
wahrgenommen wird.n

Zum Sound der „Neuen Zürcher“ gehört stets „äs bitzeli Überheblichkeit“


Titelseite gegen den Krieg
Die Ausgabe vom 24. Februar 2022. Natür-
lich richte Putin seine Politik nicht nach der
„NZZ“ aus, sagt Gujer, aber das sei ein Fehler

Vier Seiten für die Ewigkeit
Die erste Ausgabe der Zeitung vom


  1. Januar 1780 erschien in einer Auflage
    von 1000 Exemplaren. Im Kopf: der Holz-
    schnitt eines Postreiters


Donnerstag, 24. Februar 2022 ∙ Nr.46 ∙ 243.Jg. AZ 8021Zürich∙ Fr. 5.10

Widerstandskraft :Chinas Gese llsc haft ist zäh – ein Vorteil gegenüber dem West enSeite 17

Re da kt ion und Verlag: Ne ue Zürcher Zeit ung, Falkenstrasse 11, Post fach, 8021 Zürich, Telefon: +41 44 25811 11,Leserservice/Abon nemenWetter/TV/Radio: 28 , Tr aueranzeigen: 10, Impressum: 30ts: +41 44 25810 00, http://www.nzz.ch AT €3.30

Der Sog des Krieges
erfa sst die Ukra ineAusn ahmezustand wegen akute r Gefahr aus Russland
Die russischenDieserbereit zu einemmussnichtTruppenGrossangrifunbedingtscheinenf.dort
erfolgen,geschossenwo derzeitwird.am lautesten
ANDREAS RÜESCHDer befürauf die Ukraine ist am MittwochchteterussischeGrossangrifaus-f
geblieben,hat es nicht gefehlrung in Kiewaber an düsterOpfert.So wurde die Regie-einer weiteren gros-en Vorzeichen
ministeriumsdassbehörde und weiterer Ministeriensen Cyberdie Internetportaleattacke. Diese hatte zur Folge,, der Katastrdes Aussen-ophenschutzfür-
längere Zeit ausfielen.sisch unter Beschuss kamderweilandenFrontlinNichtnur virtuell, sonderienin derRegiondie Ukrainen auchphy-
Donbass im Osten des Landes. Die dor-tigen, von Russland nun ganz offiziellunterstützten Separatisten beschossen
ukr aini sch kontrolliert es Ge bie t mitArtillerie(«Glück»),dies etwa. Videoaufnahmenfür das Städtchendas naheder SeparSchtschastjabele gtenatisten-
hauptwirkendegebliche ukrainische KriegsverbrechenstadtrussischeLuhansk liegt. HysterischBerichteüberan-
bliebesen als Propagandn dagegen unbewa betrachtetiesen und müs-werden.
DonbasstandsDieVervielfachungverletzunges nichtHauptprobn im Donbasvon Waffenstills hat zurlem-
Folge, dass sich die weltwesamktriert.eit nun auf dieseDa Moskaudie AnsprücheRegionite Aufmerk-konzen-der
Donbass ausdrücklbefürchtet,bassbeidenund LuhansSepardass ein gratistenrepublikk auf den gesamich unterösserer Kriegstützten Don-, wirdvonten
dortSeparsich dabeiausgehenatistenwie schonversteckwird. Russlanden und seine Teil-früherhinter denkönnte
nahmeKo nfl ikte s könnt e auch ein Ablenkungdas gezielmanöver darstellen.an den Kämpfente Anheizendiesesleugnen.regionalenDochs-
sprechendie Ukraine alleinpolitische GrünGegeneinensowohlAngrifde. Zummilitärischüberf Russlandseinenden Donbasse als auchbefindenauf
sich dortstellungenDiese habendie stärksten Verteidigungs-der ukrainischen Truppen.sich dort in einem jahre -
langendie ukrainischvon Kilometern schlecht geschütIm Norden und NordosteAbwehrkampfe Grenzegut verschanzt.auf Hundertenn dagegzt.en ist
Putinden DonbasstegischeZumdas von ihmProblemanderen löst de r Kremlherrunternicht,formulierte stra-Kontrolle bringindemer nurt.
Die Rest-Ukrnur nochten.Auch bliebestärker nachaine würde sich dadurdie Regierung in KiewWesten ausrich-ch
nen militärkennen, dass er auf mehrPutinunter Präsidentlässt in seiner Rhetorikischen SchachzügenSelenskifest im Sattel.abzielund in sei-t als nurklar er-
darauf, demtere Bezirkeine tiefeDemütigunge abzuzwackNachbarlandund Demoren. Er scheinteinigewei-ali-
sierungder Ukraine anzustreben,ver-

bunden mit einer UmkrMachtverhältnissein Kiew.empelungder
StellungenVon grössterjüngstenTruppenbewegungennaheBedeutungder Grenzesind daherim Nor-die
den der Hauptsdes.Sie wirken wie konkreteAngrifbere itungeCharkiw,de rzw eitg rösste nStadtn. Die dort massiertentadt und in der Nähedes Lan-fsvor-russi-von
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einergangen werden. Die ukrainischevasionsastadtist auchschlagkrrmeedurch eine grosse Zahläftigennördlich von KiewpotenziellenHauptausge-vonIn--
neu statioland bedroht.Diesenierten Raketen in WeissrussRealitätscheint auchWolodi--
mir SelenGefahrNachdehängteseineRegi erungam Mittwochmi tm der ukrainischelangeherunterski bewusstgeworgespieltPräsidentden zuhatte,ver-sein.die
Zustimmungzehntausendnahmezustand.Reservistendes ParlamentsZudemwurden mehrmobilisieden Aus-rt.ere

Ukraine-KriseSelenskibeweistHaltung: Der ukrainische. PräsidentSeite 2, 3
EnergiemarktStream 2 treibt die Preise hoch.Uefa:Der europäische:Das Aus von NordFussballist heuteSeite 4
Der Schweize r Nazider erst en Stunde FrançoiZusammenbruchReichs».Der Lausanner Bankiers Genoud war ein Jünglingdes NS-Regimesverlegte Schriften von Nazigrössen, als er 1932 Adolf Hitlersah er sich als NachlassverwalterILLUSTRATIONEUGENFLECKENSTEINbegegneund finanziertte. Nachdes «Drittendem/NZZe Sanktionen:Embarabhängig von Gazprgos auchPutinsüberom-Gedie USA.Gefolgeld.umgehtSeiteSeite 2315
paläst50 Jahren beteilinensische Terroristenigte er sich sogar an einer– überwacht, aber nichtFlugzeugentführgestopptung.vom StaatsscSchweiz,Seite8,9hutz.Vor
«Dem Publikumwird politisches Heroin verabreicht»
Bari Weiss hat die «Nben.· DieJournalistinBari WeissewYork Times» 2020verlasse n, heute gehört sie zu ihre n Kritikern
«New York Times»In einemkannt,wurde einem breitenals sie ihre Kündigungöffentlichen Brief schriePublikeingereicht hatte.um erst be-bei derb sie
von Mobbisie erlebtnehmende Intoleranz geg enüberng und Diskriminieruhabe, und kritisiertedie zu-ng, dieab-
weichenden«Newdie Ideollöstevor zwei Jahren eine DebatYork Times»ogisieruMeinungen.ng der Medieim SpeziellenIhr Schreibenn und derte überaus,
DonaldPräsidenten,die weit überWeiss warTrumpsdie USA hinausgals Redaktorin2017, nachzumamerikanischender Wahling.angestellt
worden mit dem Ziel,zu erweitelicheSpektrumrn. Nachdauf den Meinem die «Newdas weltansungsseitenchau-Yo rk
rumpeltnahezuvon der Wahl des RepublikanerTimes»– wie die meistenworden war, weil sie diese fürunmöglichgehaltenhatte,wollteMedis über-en –
sie sich stärkerallerdingsGemäss Weiss war der Aufbru chnur von kurzeröffnen.Dauer, der
herrschendeGeisthabesich nichtver-

ändertPublikumzu verabreichen. «Es gehteine Art politischesnur noch», sagt sie im Interviewdarum,Heroindem
LeserhabeWerbekunmit der NZZ.sich auchdie Redaktionden, sondernDa heute nichtder Journalismusen finanziermassgemehr dieblichstarkten,die
verändert. Es gelte heute primär, dasPublikzuholen,«Wer einenum zufriedwo es ideoloweiterenzusen Meinungsgischtellenverortetund da ab-artikelsei:
darübein ekelhafteswird auf Platzer schreibt,moralischeins landen.» In Umfra-dassDonaldes Monster sei,Trump
gen habeausgefLeser si ch als Demokraten,Libe rale un dProgressive bezeichneten. Das erkläreundendie «New,dass etwaYork Times»95 Prozent ihrerher-
die politische RichtungSpektrumsZeitunAuf der anderg gehe.fahre Fox Newsen Seite, in welchedes politiseinechenähn-die
licheKonservblikanerStrategieativean sich zu binden. Bari Weiss, allerdingsund Anhänmit dem Ziel,ger der Repu-
ist der AnsicInstitutionen»ht, dass es in «Mainsfür Journalisten zunehtream--

mend schwierig werd e, unbefangen zuberichten.eine «ExplDarum erlebtenosionvon neuenwir geradeMedien».
Times»wurde von KollegennichtDasArbeitnur auf Twitter, sondernbeschrsklimaeibt Weiss wie folgt:bei der «Newoffen gemobbt,auchYo rk«Ichin
des Herausgebersmeinen Namen setztemanden internenvor den Augen meiner ChefsSlack-Kanälen,Messer. Es war wirklich-Emojisin denennebenund
unangenehm.LeuteMikr oaggr essio nendie sonst, Das Seltsamsteempfindlichreagier en, fühlenauf kleinsteaberist:
sich gut dabeiwennIlliberDie Tendenzsie ‹falsche› Meinunalismus, ander, die Weiss der amerikahin zu Zensure zu schikaniegen haben.»ren,und-
nischenGrundwellenichtTheorievon oben,Gesellschaftwie die Criticalvon unten»sonde rn sei «eineattestiert,. EineRace Theoryra dikalekommeArt
sei einmal ein Elitenphsen, mittlerweiletäten,Technologieusei sie in den Univenternehmänomen gewe-en,in Poli-rsi-
tik und MedienallgegeFeuilleton,Seite32nwärtig.
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