Aero International September 2017

(Greg DeLong) #1

78 http://www.aerointernational.de 9/2017


te. Nun hatte man die schreckliche Gewiss-
heit, dass alle 102 Menschen an Bord des
Flugzeugs ihr Leben verloren hatten. Am



  1. Januar fing das US-Marineschiff „Mary
    Sears“ endlich die Funksignale beider Black-
    Boxen auf, die nur 30 Kilometer nördlich
    der letzten Position in einer Tiefe von 1900
    Meter lagen. Dorthin konnte man nur mit
    tiefseegeeigneten Tauchrobotern gelangen,
    dessen Einsatz sehr kostspielig ist. An die-
    sem Punkt kam Adam Air’s fragwürdiges
    Geschäftsgebaren zutage: Obwohl eines ih-
    rer Flugzeuge am Meeresboden lag, weigerte
    sich die Unternehmensleitung hartnäckig,
    die Kosten der Bergung zu übernehmen.
    Statt alles für die Aufklärung dieser Katast-
    rophe zu tun, zog es Adam Air vor, um ihren
    Kostenanteil zu feilschen. Die Verhandlun-
    gen zogen sich über ein halbes Jahr hin. Erst
    als sich landesweiter Protest gegen die Flug-
    linie formierte und viele Passagiere Adam
    Air boykottierten, lenke die Airline ein.


Dramatische letzte minuten
Als die Bergungsarbeiten im August endlich
beginnen konnten, waren die Peilsender be-
reits lange verstummt. Dennoch gelang es,
beider Aufzeichnungsgeräte habhaft zu wer-
den. Sie wurden zur Auswertung zu den Ex-
perten der US-amerikanischen Flugunfallbe-
hörde NTSB in Washington geflogen.
Den Ermittlern bot sich bei der Analyse
der Daten ein dramatisches Bild der letzten
Minuten von Adam Air 574. Der Steigflug


verlief routinemäßig, bis der Jet die Reise-
flughöhe von 35 000 Fuß erreicht hatte und
sich dem Fixpunkt KASOL, etwa 250 Kilo-
meter von Surabaja entfernt, annäherte. Die
Probleme begannen, als die Luftraumkon-
trolle in Makassar Flug 574 direkt nach DI-
OLA freigab. Anhand der mitgeschnittenen
Cockpitgespräche fand man heraus, dass
Kommandant Widodo die Anzeige des Träg-
heitsnavigationsanlage IRS auffiel. Laut die-
sen Daten befand sich die 737 nicht mehr auf
dem vorgeschriebenen Flugweg, sondern flog
nördlich der programmierten Route. Die Un-
tersuchungen ergaben, dass bereits kurz nach
dem Start eine erste Anomalie der geflogenen
Route sichtbar wurde, die sich immer weiter
vergrößerte.
Das IRS basiert auf einer Kreiselkompass-
anlage, die dem Autopiloten laufend alle Posi-
tionsdaten sowie Geschwindigkeit, Kurs und
Höhe liefert. Damit dieses System ordnungs-
gemäß arbeitet, ist eine Kalibrierung vor dem
Abflug nötig, bei der man die exakten Koor-
dinaten der Parkposition eingeben muss. Dies
hatten die Piloten erledigt. Demnach musste
etwas anderes die Fehlfunktion ausgelöst ha-
ben. Das Augenmerk der Ermittlungen verla-
gerte sich nun auf die Wartungsaufzeichnun-
gen der Unfallmaschine. Bestürzt stellten die
Experten fest, dass PK-KKW bereits seit drei
Monaten mit einem fehlerhaften IRS-System
herumflog. Das Wartungsbuch war gespickt
mit dutzenden Einträge von Fehlfunktionen
und Systemausfällen des Navigationssystems.

Doch scheinbar war das IRS nie wirklich re-
pariert worden, sondern nach einem oberflä-
chigen Funktionstest der Kabelverbindungen
immer wieder von den Airline-Technikern als
„in Ordnung“ gestempelt worden.
Zurück zum Flug 574. Dort baten die Pilo-
ten per Kabinenansage alle Passagiere sich an-
zuschnallen, da man mit schlechtem Wetter
und Turbulenzen rechnete. Seit geraumer Zeit
wusste die Crew, dass ihr Navigationssystem
nicht richtig arbeitete, dennoch setzte sie den
Flug über die Javasee durch ein Schlechtwet-
tergebiet fort. Mitten in der konvektiven Be-
wölkung, unter Instrumentenflugbedingun-
gen, versuchte die Crew nun den Fehler des
ungenau arbeitenden Trägheitsnavigations-
systems zu beheben. Die 737 besitzt zwei die-
ser Geräte; über Schalter im Overhead-Panel
lassen sich deren Betriebsmodi getrennt von-
einander wählen. Kapitän Widodo schaltete
das zweite vom NAV (Navigation)-Modus in
einen halbautomatischen Modus auf „ATT“
(Attitude/Fluglage) um, in dieser angespann-
ten Atmosphäre übersahen die Piloten einen
wichtigen Schritt: Vor dem Umschalten muss
laut Handbuch das Flugzeug etwa 30 Sekun-
den lang mit waagerechten Tragflächen und
konstanter Geschwindigkeit geflogen werden
damit sich der Bordcomputer initialisieren
kann. Doch dies war bei KI574 nicht der Fall.
Das Fehlen dieses kleinen aber notwendigen
Schritts führte zum völligen Abschalten des
Autopiloten, zudem erloschen auf der Seite
des Copiloten die Fluglageanzeigen. So war
die Crew ab diesem Moment gezwungen, ihre
Maschine per Hand steuern. Doch beide Pi-
loten waren zu sehr mit ihrem Navigations-
problem beschäftigt, um dies zu realisieren.
Der Autopilot hatte bisher das Flugzeug mit
einem Ruderausschlag von 5 Grad nach links
horizontal gehalten. Ohne ihn begann die
Boeing 737, sich langsam, aber unaufhaltsam
nach rechts zu neigen, die Flugbahn wurde
immer steiler. Unfallermittler stellten später
fest, dass keiner der beiden Piloten versucht
hatte, die Fluglage der Boeing zu korrigieren.
Die in Multi-Crew-Cockpits übliche Auf-
gabenteilung zwischen den Besatzungs-
mitgliedern, bei der ein Pilot das Flugzeug
steuert und der andere übrige Aufgaben
übernimmt, fand schlichtweg nicht statt. Bar
jeder Außensicht verliert ein Mensch schnell
die räumliche Orientierung, das Cockpit war
von dichten Wolken umhüllt. Als die Trag-
flächen senkrecht standen, verlor die Maschi-
ne rapide an Auftrieb und die Nase tauchte
nach unten ab. Ein spiralförmiger Sturzflug
war die Folge, bei dem die Boeing fast mit
Schallgeschwindigkeit Richtung Erde raste
und sich auf den Rücken legte. Ein Rettungs-
manöver war nun nicht mehr möglich. Um
14:59 Uhr, exakt eine Stunde nach dem Start,
versagte die Struktur der 737. Flug 574 brach
etwa 9000 Fuß über dem Meer auseinander
und zerfiel in mehrere Einzelteile, die Se-
kunden später auf dem Wasser aufschlugen.
Keiner an Bord hatte eine Überlebenschance.

Mayday


auszug aus dem handbuch der Fluglinie für die Boeing 737-400: es geht ausführlich darauf
ein, dass das Flugzeug beim umschalten der trägheitsnavigationssystems 30 sekunden un-
beschleunigt horizontal fliegen muß

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