Torries

(coco) #1

ZEITGESCHICHTE Fernnachtjagd


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A


ls man Oberst Josef Kammhuber im
Juli 1940 zum Kommandeur der gera-
de neu gebildeten 1. Nachtjagddivisi-
on machte, stand er vor einem Dilemma,
denn echte Nachtjagdverbände der Luftwaffe
existierten noch gar nicht. Ebenso wenig gab
es irgendwelche Erfahrungen für erfolgreiche
Nachteinsätze, auf die man zurückgreifen
könnte. Jetzt war Sachverstand und Durchset-
zungsvermögen gefragt. Kammhuber entwi-
ckelte ein Konzept: Von Anfang an schwebte
ihm eine zweiteilige Nachtjagd vor. Neben
der Nahnachtjagd, die dazu dienen sollte, ein-
fliegende Bomber zu bekämpfen, wollte man
auch eine Fernnachtjagd aufbauen. Er wollte
die britischen Bomber direkt beim nächtli-
chen Starten und Landen auf ihren eigenen
Plätzen in England angreifen und abschießen.
Zeitgleich begann der Aufbau des ersten
Nachtjagdgeschwaders. Die I./NJG 1 sollte
dabei die Nahnachtjagd abdecken, während

man die II./NJG 1 zur Keimzelle der Fern-
nachtjagd machte. Bereits in der Nacht des


  1. Juli 1940 schoss Feldwebel Otto Wiese mit
    seiner Besatzung den ersten britischen Bom-
    ber vor der englischen Küste ab. Nur eine
    Stunde später holte Feldwebel Georg
    Schramm eine zweite Vickers Wellington vom
    Himmel. Diese Erfolge beflügelten die Fern-
    nachtjagd als neue Waffe. Ein ganzes Ge-
    schwader sollte jetzt entstehen. Zu diesem
    Zweck benannte man die II./NJG 1 in I./NJG 2
    um und verlegte sie im September von Düs-
    seldorf nach Gilze-Rijen. Für die Mannschaft
    war es etwas völlig Neues, in der Nacht über
    feindlichem Gebiet auf Bomberjagd zu gehen.


Wunschjäger Ju 88
Eines der größten Hindernisse: Es fehlte noch
an einem schnellen Nachtjagdflugzeug mit
akzeptabler Reichweite. Umgerüstete veralte-
te Bomber wie die Dornier Do 17 halfen nicht

wirklich weiter. Wunschkandidat war die mo-
derne und schnelle Junkers Ju 88, die sich
zudem durch eine genügend lange Flugzeit
auszeichnete. Um alle Staffeln auszurüsten,
reichte ihre Zahl jedoch nicht, denn die Luft-
waffe brauchte die Ju 88 für den offensiven
Bombenkrieg an allen Fronten.

Gefährliche Einsätze
Unter Kommandeur Hauptmann Karl-Hein-
rich Heyse begannen die ersten Aktivitäten
der I./NJG 2. Er selbst kam jedoch am 24. No-
vember 1940 während eines Einsatzes ums Le-
ben, als seine Ju 88 C-4 bei der Verfolgungs-
jagd eines Hampden Bombers über der
Nordsee abstürzte. Es zeigt, wie gefährlich sol-
che Einsätze waren. Major Karl Hülshoff über-
nahm daraufhin die Gruppe. Hielt man die
ersten Abschüsse über England noch für Zu-
fall, belehrten die »Nachtjäger« die RAF eines
Besseren. Oberleutnant Herbert Thomas, Pilot

Überraschend tauchten im Sommer 1940 deutsche Jäger über britischen Flugplätzen auf.


Sie attackierten RAF-Bomber mitten in der Nacht und fügten den Briten innerhalb kurzer


Zeit hohe Verluste zu – bis man das »Erfolgskonzept« abrupt beendete Von Dietmar Hermann


SO WEHRLOS WAR DIE RAF


Die Adler der

Dunkelheit

Aufbruch zur Jagd in der Dunkelheit: Die
meiste Zeit über nahmen die »Nachtadler«
Flugzeuge und -plätze in England aufs Korn.
Jedoch verlegte man die I./NJG 2 Ende
1941 ans Mittelmeer – und gab damit eine
starke Waffe gegen die RAF aus der Hand
Foto Sammlung Paul Stipdonk
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