heumaps0517

(Ben Green) #1

TITEL


aber, dass imaginierte Vorteile von Alternativen die
Situation meist noch verschlechtern, weil sie die Bin-
dung an das Gewählte (den Job, den Partner) ver-
ringern.
Eine Untersuchung mit 400 verheirateten Paaren
brachte ein verstörendes Ergebnis: Alle Teilnehmer
konsumierten häufig Seifenopern, romantische Se-
rien oder scripted reality-Formate wie Bachelor/Ba-
chelorette, in denen es um Liebe, Leidenschaft und
Herzschmerz geht. Die Teilnehmer unterschieden
s i c h j e d o c h d a r i n , o b s i e d i e s e f i k t i v e n D a r s t e l l u n g e n
für modellhaft und halbwegs real hielten. Wer Letz-
teres in hohem Maße tat, gab in vertraulichen Be-
fragungen an, immer wieder einmal mit Alternativen
zu liebäugeln. Die Bindungsbereitschaft dieser Fern-
sehgucker war deutlich fragiler, weil sie häufig über
potenzielle andere Partner fantasierten.
Je enger wir eine Bindung entwickelt haben, je
mehr wir in sie investiert haben, desto resistenter
sind wir gegen die Versuchung anderer Optionen.
Wer sich dagegen häufig kontrafaktischem Denken
à la „Wa s wä re gewesen wenn...“ hi ng ibt, w i rd mög-
licherweise nicht genügend Energie und Aufmerk-
samkeit in die getroffene Wahl investieren. Der eng-
lische Psychoanalytiker Adam Phillips schreibt über
diesen irrealen Wunsch nach Lebensoptimierung:
„Niemand hat jemals die Jugend gehabt, die er hätte
haben sollen.“ Und: „Manchmal glauben wir, mehr
über das zu wissen, was wir nicht haben können oder
haben wollten, als über das, was wir haben. Das nennt
man Frustration.“
Die bewusste Konzentration auf den eingeschla-
genen Weg kann Reuegedanken verscheuchen. Das
bestätigen auch die Forschungen der Philosophin
Ruth Chang, die als Professorin für Philosophie an
der Rutgers-Universität in New Brunswick (USA)
lehrt. In einem Interview mit Psychologie Heute (Heft
10/2015), erklärte sie, wie man rückblickende Reue
vermeidet und die Akzeptanz eines einmal einge-
schlagenen Weges erhöht: „Angenommen, man wählt

den stressigen Powerjob in der Großstadt und nicht
die ruhige Position in der Provinz. Indem man die-
se Entscheidung fällt, verändert man sich selbst ein
wenig, denn man wird zu der Person, die sich auf
den stressigen Powerjob einlässt. Es ist nicht so, dass
die Welt einen verändert hat. Man hat sich selbst
verändert, indem man sich ganz in den Stadtjob wirft.
Und während die beiden Alternativen vorher gleich-
wertig waren, stimmt das nun nicht mehr. Der Stadt-
job ist jetzt wertvoller als der Landjob, und man hat
in der Tat mehr Grund, ihn auszuüben.“
Unsere Träume, Wünsche und Fantasien von an-
deren, aufregenderen, besseren Varianten unseres
Daseins begleiten uns lebenslang. Adam Phillips er-
klärt, warum das nicht gelebte Leben für uns letztlich
genauso wichtig ist wie das gelebte. Unsere Fantasi-
en von einem anderen Leben, das wir möglicherwei-
se hätten führen können, sind sogar ein zentrales
Merkmal der menschlichen Existenz.
Die Alternativ- und Parallelwelten erinnern uns
an das, was uns einmal wichtig war und angetrieben
hat. Vor allem aber sind kontrafaktische Vorstellun-
gen ein wichtiges Stück Selbsterkenntnis, das uns
reifer macht. Das ungelebte Leben – die nicht ver-
wirklichten Träume und Wünsche – kann uns also
durchaus vorteilhaft beeinf lussen und prägen. Es sei
geradezu ein Zeichen von Weisheit, Reife und Ge-
lassenheit, erklären uns Altersforscher, diese Fanta-
sien fast so genießen zu können, als wären sie Wirk-
lichkeit geworden.

Heiko Ernst ist Diplompsychologe
und war von 1979 bis 2014 Chefredak-
teur der Zeitschrift Psychologie Heute.
Seit 2015 ist er dem Magazin als Autor und
Blogger verbunden.

LITERATUR
Neal Roese: If only. How to turn regret into opportunity. Broad-
way Books, Random House, New York 2005
Jia Wei Zhang, Serena Chen: Self-compassion promotes perso-
nal improvement from regret experiences via acceptance. Per-
sonality and Social Psychology Bulletin, 2016, Vol. 42 (2), 244
bis 258
Sergej Evljuskin, Christof Dörr: Eigentlich wäre ich jetzt Welt-
meister. Schwarzkopf&Schwarzkopf, Berlin 2016
Adam Phillips: Missing out. In praise of the unlived life. Hamish
Hamilton, Penguin Books, London 2012
Augusten Burroughs: How to ditch a dream. Psychology Today,
May/June 2012
Abby Ellin: I coulda been a contender. Psychology Today, July/
August 2012

Alternativwelten erinnern uns


an das, was uns mal wichtig


war. Und sie sind ein Weg zur


Selbsterkenntnis

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